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Fälschungsskandal: Wie Juan Moreno Claas Relotius entlarvte: "Er war ein genialer Lügner"

Fälschungsskandal

Wie Juan Moreno Claas Relotius entlarvte: "Er war ein genialer Lügner"

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    Claas Relotius bei einer Preisverleihung im Jahr 2014. Damals wurde er als „CNN Journalist of the Year“ ausgezeichnet – eine Ehrung, die außergewöhnlich war. Selbst für Relotius, der insgesamt mehr als 40 Journalistenpreise innerhalb weniger Jahre erhielt.
    Claas Relotius bei einer Preisverleihung im Jahr 2014. Damals wurde er als „CNN Journalist of the Year“ ausgezeichnet – eine Ehrung, die außergewöhnlich war. Selbst für Relotius, der insgesamt mehr als 40 Journalistenpreise innerhalb weniger Jahre erhielt. Foto: Ursula Düren, dpa

    Es ist fast wie in einer dieser Geschichten von Claas Relotius, die letztlich Märchen waren und keine Reportagen: In ihnen gibt es auch eine klare Rollenverteilung, Gut und Böse. Im „Fall Relotius“, dem größten Fälschungsskandal der jüngeren Mediengeschichte in Deutschland, war es – welch Ironie des Schicksals – offenbar nicht wesentlich anders. Mit dem Unterschied, dass der „Fall Relotius“ wahr ist.

    Da ist also der mit Preisen überschüttete Spiegel-Redakteur Claas Relotius, Anfang 30, bewundert in der Branche. Hoch in den Himmel gehoben als „Zukunft des Spiegel“, wie ihn ein Chefredakteur des Hamburger Nachrichtenmagazins einmal bezeichnete. Doch Relotius stürzte tief, entlarvt als skrupelloser Betrüger. Er fälschte dutzende Reportagen und Interviews teilweise oder ganz – nicht nur im Spiegel – in einem Ausmaß, das den Skandal um die „Hitler-Tagebücher“ des Stern in den 80er Jahren noch übertrifft. Die Folgen für die Branche möglicherweise ebenfalls.

    Und da ist Juan Moreno, der gemeinsam mit Relotius an einer Spiegel-Reportage arbeitete – und der ihm auf die Schliche kam. Wie genau, das schildert Moreno in seinem an diesem Dienstag erscheinenden Buch „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“. Erstaunlich unaufgeregt, dafür, dass Relotius beinahe Morenos berufliche Existenz zerstört hätte.

    Fast hätte Claas Relotius die berufliche Existenz von Juan Moreno zerstört

    Gastarbeiterkind Moreno – 1972 im spanischen Huércal-Overa als Sohn andalusischer Bauern geboren, die Arbeit und eine Zukunft in Hanau am Main fanden – erhielt im Mai vom Journalisten-Netzwerk Recherche den Preis „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“. Zur Begründung hieß es, er habe „hartnäckig und mutig gegen Widerstände im eigenen Haus recherchiert und dabei viel riskiert – um schließlich zu enthüllen, was lange niemand wahrhaben wollte“. Mehr noch: „Juan Moreno setzte seine eigene berufliche Existenz aufs Spiel, um die Fälschungen beweisen zu können.“ Mit ihm gebe es „einen Aufrechten“, der „zur Ehrenrettung des Journalismus beigetragen hat“.

    Juan Moreno war der Mann, der den Blender Relotius enttarnte. Dabei setzte er seine eigene berufliche Zukunft aufs Spiel.
    Juan Moreno war der Mann, der den Blender Relotius enttarnte. Dabei setzte er seine eigene berufliche Zukunft aufs Spiel. Foto: Mirco Taliercio

    Betrüger kontra Aufrechter. Ehrenrettung des Journalismus. Und das vor dem Hintergrund von „Lügenpresse“-Vorwürfen und massenhaft verbreiteter „Fake News“. Diese Geschichte wäre ein Relotius-Stoff gewesen. Wenn sie im Ausland gespielt hätte. Denn in Deutschland wollte Claas Relotius nicht, nun ja, „recherchieren“. Zu groß die Gefahr aufzufliegen. „Der Fall Relotius“ ist ein Krimi- und Film-Stoff. Und in der Tat soll Morenos Buch verfilmt werden.

    Zum Buch gleich mehr, zunächst zum Skandal: Der Spiegel selbst hatte ihn am 19. Dezember öffentlich gemacht und etwas mehr als fünf Monate danach, wieder „in eigener Sache“, auf 17 Seiten über den Abschlussbericht einer unabhängigen dreiköpfigen Aufklärungskommission berichtet. Moreno spielt darin eine der Hauptrollen. Es gibt sogar eine Passage mit dem Titel: „Der Umgang mit Moreno“. Die Reaktionen auf den Whistleblower seien geprägt gewesen „von Vertrauen gegenüber Relotius und Misstrauen gegenüber Moreno. Der Fall wurde behandelt, als ginge es nur um Gezänk zwischen einem freien Kollegen und dem Nachwuchsstar des Ressorts“, liest man. „Moreno, als fester Freier praktisch jederzeit kündbar, sah sich gefährdet. Er hatte den Eindruck, als laufe er beim Spiegel gegen eine Wand.“

    Morenos Version des „Fall Relotius“ umfasst 288 Seiten. Eine Abrechnung mit dem Spiegel, die mancher erwartet haben mag, ist das Buch nicht geworden. Moreno übt Kritik am Spiegel, für den er weiterhin arbeitet, der Bewertung der Kommission stimme er aber in weiten Teilen zu, schreibt er. „Es gab ein ,System Relotius‘. ,Systematisch‘ hat er sich dem Journalismus genähert. ,Systematisch‘ hat er für sich die Schwächen und Unzulänglichkeiten im Journalismus genutzt. Der ,Spiegel‘ ist keine Fälscherbude. Relotius ist ein Fälscher.“

    Morenos Buch ist eine Abrechnung mit dem Lügner Relotius

    Morenos Buch ist glücklicherweise keine vor Wut schäumende Abrechnung mit Relotius geworden, was nachvollziehbar gewesen wäre. Dazu ist Moreno viel zu sehr Reporter. Eine Abrechnung ist es dennoch mit dem Ex-Kollegen. „Er war kein genialer Reporter, er war ein genialer Lügner“, stellt Moreno fest. Sogar die Nebelkerzen, mithilfe derer sich Relotius immer wieder aus misslichen Situationen befreit habe, seien „grandios“ formuliert gewesen. „Was hatte dieser Mann für Nerven? Wie kann man sich so viel Zeug ausdenken und jeden Tag völlig entspannt in der ’Spiegel’-Kantine sitzen, umgeben von Kollegen, die einem zum letzten Text gratulieren?“, fragt sich Moreno. „Ob es nur eine Frage der Zeit war, bis er aufgeflogen wäre? Ich bin davon nicht überzeugt.“

    Die Vorstellung ist erschreckend: Claas Relotius habe kurz davor gestanden, Leiter des Gesellschaftsressorts und damit Morenos Vorgesetzter zu werden. Als Ressortleiter wäre er nicht mehr zum Schreiben gekommen. Relotius’ Förderer – die ehemaligen Leiter des Gesellschaftsressorts, Matthias Geyer und Ullrich Fichtner – standen ebenfalls vor einem Karrieresprung. Geyer sollte Blattmacher werden, Fichtner Chefredakteur. Geyer wurde später gekündigt, einem Welt-Bericht zufolge wurde die Kündigung jedoch zurückgezogen und eine „befriedigende Lösung“ für beide Seiten gefunden. Fichtner ist noch fest beim Spiegel.

    Jedenfalls: „Jaegers Grenze“, erschienen am 17. November 2018, sei der letzte Text gewesen, den Relotius für den Spiegel hätte schreiben sollen, erklärt Moreno. Es war der Text, der ihm, vor allem aber Relotius zum Verhängnis werden sollte. Moreno begleitete für die Reportage eine Flüchtlingskarawane, die in Richtung USA zog. Relotius sollte eine rechte Miliz auskundschaften, die die Flüchtlinge auf US-amerikanischer Seite bereits erwartet – um Jagd auf sie zu machen.

    Oder in den Worten Geyers an die beiden Reporter: „Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.“

    Beim Spiegel glaubt man Moreno lange nicht

    Eine ungeheuerliche Mail, denn sie steht völlig im Widerspruch zu dem, wie seriöse Journalisten arbeiten. Ergebnisoffen, sich der Wirklichkeit annähernd, so gut es eben geht. Nie nach Drehbuch. Die Mail sei eine absolute Ausnahme beim Spiegel gewesen, ist Moreno überzeugt.

    Viel ungeheuerlicher als Geyers Autorenbriefing ist ohnehin, dass sich Relotius diesen „Typ“ – sogar gleich mehrere solcher Typen – für seinen Teil der Reportage einfach ausdachte. Moreno ahnte das bereits früh im Laufe der Zusammenarbeit. „Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte mit meiner Kritik. Mich störte so ziemlich alles an dieser Geschichte.“ Er fand schließlich heraus, dass fast nichts an dieser Geschichte der Wahrheit entsprach. Mit dem Verdacht wendete er sich unter anderem an Geyer, der ihm laut Spiegel-Abschlussbericht – und übereinstimmend mit Moreno – sagte: „Entweder richtest du gerade einen Kollegen hin oder du richtest dich selber hin.“

    Und so kommt zum Betrug und dessen Aufklärung ein weiterer Aspekt im „Fall Relotius“ hinzu: der des Machtkampfes. Relotius, über den Kollegen nur Lobendes erzählten, der ein Sympathieträger war, gelang es immer wieder, Morenos Beweise zu erschüttern. Er war bestens über sie unterricht, wurde er über sie Moreno zufolge doch stets informiert. Moreno erschien als Neider.

    Es sind vor allem die Auszüge aus Mails, die Wiedergabe von Telefonaten und von Treffen der Beteiligten in Morenos Buch „Tausend Zeilen Lüge“, die in einen Abgrund blicken lassen. In einer „letzten E-Mail“ an Ullrich Fichtner, in der er nochmals und zunehmend verzweifelt seine Sicht der Dinge darlegte, schrieb er am 11. Dezember 2018: „Ich verstehe, für euch bin ich derzeit in erster Linie ein großes Problem. Ich bin es nicht. (...) Ullrich, ich bin nicht dein Feind. Ich bin nur der Typ, der zur falschen Zeit am falschen Ort war und das macht, was du vermutlich an meiner Stelle genauso machen würdest. (...) Du und ich, wir sind Reporter. Wir gehen den Dingen auf den Grund.“

    Nicht nur Moreno, auch die Darstellungsform Reportage, der Spiegel und der Journalismus insgesamt haben gelitten. Mit Relotius bekam ein Generalverdacht neue Nahrung: Kann man Journalisten überhaupt (ver-)trauen?

    Über Claas Relotius herrscht seitdem weitgehend Schweigen. Er selbst äußert sich nicht. Morenos Buch liefert gleichwohl eine plausible Erklärung für dessen Hochstapelei: Relotius sei es um Ruhm und Bewunderung gegangen; er sei ein notorischer Lügner, dessen „System, schon in der Journalistenschule erlernt und perfektioniert, (...) von Anfang an auf Betrug ausgelegt“ gewesen sei.

    Warum betrog Claas Relotius? Und wann begann er mit seinen Fälschungen?

    Moreno nennt Beispiele. Und schreibt auch, dass den Studenten der Hamburg Media School, die Relotius von 2009 bis 2011 besuchte, im Themenblock „Recherche“ der Film „Shattered Glass“ gezeigt worden sei. Stephen Glass war 1998 aufgeflogen, nachdem er Artikel für das US-Politikmagazin The New Republic gefälscht hatte. „Der Glass aus dem Film und der Claas aus der ’Spiegel’-Redaktion, sie waren sich nicht nur ähnlich, sie scheinen fast identisch“, so Moreno.

    Er erzählt noch zwei andere Episoden. Dass Relotius vor seiner Festanstellung beim Spiegel behauptet habe, er habe eine krebskranke Schwester. Nur: Er hat keine Schwester. Und dass ein Spiegel-Kollege einige Monate nach Ende des Skandals in Kontakt mit Relotius gewesen sei. Relotius habe gesagt, er befinde sich in einer Klinik in Süddeutschland in Behandlung. „Tags darauf traf dieser Kollege eine ’Spiegel’-Sekretärin. Die Frau hatte Relotius gerade auf dem Fahrrad gesehen. In Hamburg.“

    Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Rowohlt Berlin Verlag, 288 Seiten, 18 Euro

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