Eine gebrochene Nase. Damit fängt es an. Mit Fußtritten ins Gesicht. Er sagt, er habe keine Chance gegen die Jungs gehabt, die auf ihn eintraten, als er schon am Boden lag. Sie seien in der Überzahl gewesen. Fünfzehn gegen einen.
Es ist ein nasskalter Tag im November 1997. Fadi Saad hastet durch den U-Bahnhof Tegel, er will nur noch schnell etwas einkaufen. Dabei weiß er, dass er um diese Gegend besser einen Bogen machen sollte.
Es war einmal sein Revier. Hier hat er mit seiner Gang, den "Araber Boys 21", jahrelang andere Jugendliche terrorisiert. Turnschuhe und Jacken "abziehen", wie die Jungs solche Überfälle nennen.
Die "Araber Boys 21" gibt es zwar nicht mehr, aber einige Rechnungen sind noch offen. Fadi Saad ist vorbestraft wegen Körperverletzung und räuberischer Erpressung. Er hat 25 Anzeigen und mehrere Schulverweise kassiert. Er gilt zu diesem Zeitpunkt noch immer als Schrecken der Straße.
Die Stahlkappe eines Stiefels, das ist das Letzte, was er sieht, bevor er das Bewusstsein verliert. Als er wieder zu sich kommt, liegt er im Krankenhaus auf der Intensivstation. Seine Mutter erkennt ihn kaum wieder. Die Nase ist gebrochen, das rechte Auge zugeschwollen. Die Ärzte sagen, beinahe hätte er es verloren.
Das ist jetzt fast dreizehn Jahre her. Seine Hand tastet zu der Stelle unter dem rechten Auge, wenn er von der Operation erzählt. Eine Metallplatte steckt noch immer in seinem Jochbein, die Nase ist schief zusammengewachsen.
Fadi Saad sagt: "Es klingt vielleicht komisch, aber ich danke Gott für diese Erfahrung." Der Schläger, er lag plötzlich selber am Boden. Und er begann zu ahnen, wie seinen Opfern zumute war. "Es war der Wendepunkt in meinem Leben."
Der 30-Jährige sitzt breitbeinig an seinem Schreibtisch. "Quartiersmanagement Letteplatz" steht über der Tür. Es ist ein kleines Ladenlokal mit kahlen Wänden, das mitten in einem ruhigen Wohngebiet in Berlin-Reinickendorf liegt, rostrote Backsteinhäuser dominieren hier das Straßenbild.
"Es klingt vielleicht komisch, aber ich danke Gott für diese Erfahrung."
Auf seinem Schreibtisch herrscht geordnetes Chaos. Zwischen einem PC und einem drehbaren Adressregister fliegt ein Aufladekabel für ein iPhone herum. Zwei Jungs lachen ihn aus dem Bilderrahmen an. Es sind seine kleinen Söhne Jamil und Daniel.
Fadi Saad ist ein anderer geworden an jenem Tag. Kiezmanager oder Streetworker, so nennt er sich heute. Feuerwehrmann würde es vielleicht besser treffen.
Er ist überall dort, wo es brennt. Er springt hin und her zwischen zwei Kiezen, in Reinickendorf und Neukölln. Früher der Schrecken der Straße, heute ein Vorbild.
Die Stiftung Kriminalprävention hat ihn für sein Engagement 2009 mit dem Förderpreis ausgezeichnet. Fadi Saad sagt, es sei ein bewegender Moment gewesen. Der frühere Bundespräsident, Horst Köhler, klopfte ihm auf die Schulter, seine Mutter saß mit feuchten Augen in der ersten Reihe, vier seiner sieben Brüder und seine Frau, Miriam, waren auch dabei.
Keine Frage: Das Lob von höchster Stelle hat ihm gutgetan. Er teilte es mit denen, von denen er sagt, sie hätten ihn auch dann nicht fallen lassen, als er es am wenigsten verdient hätte. Er hat diesen Satz schon oft in Talkshows wiederholt. Es ist ein versteckter Appell an alle, die mit schwierigen Jugendlichen zu tun haben: Hört den Jungs zu! Kein Fall ist wie der andere! Jeder verdient eine zweite Chance!
Ohne die säße auch er heute nicht in diesem Büro. Wo seine Arbeit als Quartiersmanager anfängt und wo sie aufhört, das weiß er manchmal selber nicht so genau. Fadi Saad sagt: "Die Leute kommen, wann sie wollen und womit sie wollen."
Er könnte jetzt die Geschichte der jungen türkischen Mutter erzählen, die auf der Flucht vor ihrem prügelnden Ehemann in seinem Büro gelandet war. Eigentlich kein Fall für den Quartiersmanager. Er hat ihr trotzdem einen Umzugslaster bestellt.
Er könnte auch von der Hausaufgabenhilfe für Schüler erzählen oder von den Bewegungskursen für die Kitas im Kiez. Alles Projekte, die er zusammen mit den Bewohnern angeschoben hat. Aber er landet dann doch immer wieder bei der Gruppe, die ihm am meisten am Herzen liegt. Es sind die "Deuraber", wie er die in Deutschland geborenen Kinder arabischer Flüchtlinge nennt.
Es ist ein Begriff, den er lieber mag als die Floskel vom "Jugendlichen mit Migrationshintergrund", wie sie Politiker gerne strapazieren. Auch in seinem Job als Sozialarbeiter redet er immer noch so, wie er es auf der Straße gelernt hat. Es klingt ein wenig schnodderig, auch wenn er im Duktus eines Pädagogen spricht, der einem trotzigen Kind zu erklären versucht, warum es Sinn macht, sich vor dem Essen die Hände zu waschen.
Diese Sprache passt zu seinem Selbstverständnis. Fadi Saad ist Pragmatiker. Er weiß, wovon er spricht, wenn er sagt: "Mit Kuschelpädagogik kommt man bei diesen abgebrühten Jungs nicht weiter." Er war selber einer von ihnen.
Er hat es nicht nötig, sich hinter Floskeln zu verstecken, die das Problem mehr verschleiern als benennen. Auf die Regeln der political correctness kann er pfeifen. Seine Schützlinge tun es auch. Er sagt, er sei eigentlich gegen härtere Strafen. Aber ein Zwölfjähriger, der gewalttätig werde, müsse sofort bestraft werden. Es reiche nicht aus, ihn erst Monate später zu sozialer Arbeit zu verdonnern. "Der geht raus und schlägt den nächsten zusammen."
"Mit Kuschelpädagogik kommt man bei den abgebrühten Jungs nicht weiter."
Er geht mit diesen Appellen hausieren in Schulen und Jugendklubs. Wildfremde Lehrer fragen ihn, wie sie sich verhalten sollen, wenn es mal wieder Stress mit jener Klientel gibt, für die er auch ein Buch geschrieben hat. Es heißt "Der große Bruder von Neukölln". Und es vermittelt eine Vorstellung davon, wie er erst auf die schiefe Bahn geraten ist. Und wie er es dann geschafft hat, sich selber wieder aus dem Schlamassel zu ziehen.
Auch das Buch ist in einer Sprache geschrieben, die nichts mit der von solchen Politikern zu tun hat, die gern härtere Strafen für sogenannte "Integrationsverweigerer" fordern. Damit fangen die Missverständnisse an. Bei einer Vokabel wie "integrieren".
"Integrieren heißt eingliedern. Aber worin? Und wen soll ich integrieren? Ich kenne genug Deutsche, die kein Deutsch sprechen. Soll ich die etwa auch integrieren?"
Saad weiß, dass viele Jugendliche schlechtere Startbedingungen haben als er selber. Ein Vater zum Beispiel, der Hausaufgaben kontrolliert, der ist heute eher die Ausnahme.
Was diese Jungs, die sich integrieren sollen, brauchen, Jungs, wie er einer gewesen ist, und Jungs wie die, die ihn damals zusammengeschlagen haben, das sei ein Vorbild. Jemanden, der sie ernst nimmt. Der ihnen aber sagt, wo es langgeht. Es ist eine Rolle, die heute wie geschaffen für ihn scheint. Fadi Saad, 1979 als ältester von sieben Brüdern im Wedding geboren, groß geworden in einer Zweizimmerwohnung auf 55 Quadratmetern.
Die Mutter Analphabetin, der Vater ein liberaler Moslem. Einer, der Gewalt und Alkohol ablehnt und die Söhne zu religiöser Toleranz erzieht. An Heiligabend schleppt er sie mit in die Mitternachtsmesse.
In den Erzählungen seines Sohnes erscheint er wie ein musterhaftes Beispiel für Integration. Er schuftet bis zum Umfallen, um die Familie über Wasser zu halten. Er nimmt sich die Zeit, um die Hausaufgaben der Kinder zu kontrollieren.
Er kann aber trotzdem nicht verhindern, dass der Sohn auf die schiefe Bahn gerät. Bei den "Araber Boys 21" findet er, wonach er lange vergeblich gesucht hat: Anerkennung. Dafür bricht er das Gesetz. Diebstähle, Schlägereien, das volle Programm.
Miriam, seine Frau, kennt ihn noch aus dieser Zeit. Sie sagt: "Fadi war ein richtiges Großmaul." Sie war 21, als er sie 2001 mit einem Heiratsantrag überrumpelte. Er hatte den Schulabschluss nachgeholt und eine Lehre zum Bürokaufmann absolviert.
Er hatte dann für einen arabischen Kulturverein in Neukölln Fußballturniere für Kinder organisiert. Die Jungs hatten Stress in der Schule, er vermittelte. Er begleitete sie auch zum Jugendamt und zum Gericht. So konnten sie die Richter, Lehrer und Sozialarbeiter nicht mehr gegeneinander ausspielen. Wieder hatte im Leben von Fadi Saad etwas begonnen.