Wenn sie damals nicht in den Wagen gestiegen wäre, wie wäre ihr Leben verlaufen? Würde sie heute als Ärztin Leben retten? Oder als Anwältin arbeiten? Sarah Wilson weiß es nicht. So lange schon stellt sich die 23-Jährige diese Fragen. Damals aber, kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, steigt sie unbedarft ins Auto eines 35-jährigen Mannes. Kurz darauf wird er sie zum ersten Mal vergewaltigen.
Damit beginnt für das junge Mädchen eine Schreckenszeit, die fünf Jahre andauern sollte und von den Tätern gut vorbereitet wurde. „Seit ich elf Jahre alt war, haben mich Männer – sie waren in ihren 20ern und 30ern – mit Geschenken überhäuft“, erinnert sich die Britin aus dem nordenglischen Rotherham. Sie gaben vor, ihre Freunde zu sein, sagten ihr, wie hübsch sie aussehe, kauften dem Mädchen aus dem einfachen Elternhaus Klamotten, ein neues Handy und Essen, Zigaretten und Alkohol.
Weil Sarah von den anderen Kindern in der Schule schikaniert wurde, sich einsam fühlte und von den Lehrern im Stich gelassen, verbrachte sie mehr Zeit mit den älteren Männern. Obwohl sie eingeschüchtert war. Als die Täter ihr wahres Gesicht zeigten, empfand das Mädchen deren Verhalten schon fast als normal, hat sie britischen Medien erzählt.
1400 Mädchen in Rotherham missbraucht und versklavt
Sarah Wilson verleiht als eines der Opfer dem wohl schlimmsten Missbrauchsskandal in der britischen Geschichte eine Stimme. Denn die meisten Beteiligten schweigen noch immer ob der schieren Ungeheuerlichkeit dieses Falls. Zwischen 1997 und 2013 wurden mindestens 1400 Mädchen von organisierten Banden mit meist pakistanischem Einwanderungshintergrund in Rotherham in South Yorkshire sexuell missbraucht, vergewaltigt, geschlagen, eingeschüchtert und versklavt. Die Täter übergossen die Kinder mit Benzin und drohten ihnen, sie bei lebendigem Leib anzuzünden, sollten sie sich anderen anvertrauen. Manchmal wurden sie entführt, in entfernte Städte gebracht und als Prostituierte eingesetzt.
Und die Stadt, die Polizei, die Kinderschutzbehörden, die örtliche Labour-Regierung, die Schulen – sie alle schauten weg. Die wenigen, die Alarm schlugen, ernteten Unverständnis, Rüffel oder gar Sanktionen. Erst im August vergangenen Jahres enthüllte der unabhängige Untersuchungsbericht der Professorin Alexis Jay das ganze Ausmaß des Skandals und beklagte ein „kollektives und eklatantes Versagen“ der Behörden. So seien etwa interne Berichte über die Situation unterdrückt oder ignoriert worden. Die Regierung in Westminster schickte eine Sondergesandte zur Aufklärung nach Nordengland, die Anfang des Jahres zu demselben Ergebnis kam. Der Stadtrat trat geschlossen zurück. Und Rotherham, in dessen Gürtel rund 250000 Menschen leben, hat sich zum Synonym für das beispiellose Versagen jener Stellen entwickelt, die eigentlich für den Schutz von Kindern zuständig sind.
Zwar hat ein Gericht bereits 2010 eine fünfköpfige Bande mit Wurzeln in Pakistan zu langen Haftstrafen wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Aber damals war von einer weit geringeren Opferzahl die Rede gewesen. Erst anschließende Recherchen eines Journalisten der Times brachten den Stein ins Rollen.
Ab Montag stehen nun acht Angeklagte aus der Grafschaft Yorkshire – sechs Männer und zwei Frauen – vor einem Gericht in Sheffield. Ihnen werden Sexualverbrechen an unter 16-jährigen Kindern und Jugendlichen vorgeworfen, die sie zwischen 1998 und 2002 begangen haben sollen. Zudem haben die Ermittler hunderte weitere Verdächtige ausgemacht. Die Untersuchungen könnten bis 2018 laufen.
Rotherham schweigt nach wie vor beharrlich
Wird dieser Prozess jene Fragen beantworten, die viel zu spät gestellt wurden? Noch immer fehlt der Wille zur kompletten Aufarbeitung. In Rotherham herrscht vielerorts Schweigen, als habe sich die Stadt ein Redeverbot erteilt. Und die Reue der Verantwortlichen, die Anzeichen nicht ernst genommen und schwere Fehler gemacht haben, hält sich in Grenzen. „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“, scheint in vielen Köpfen herumzuschwirren.
Rotherham rühmte sich einst für seine Eisen- und Stahlproduktion. Rote Bergarbeiter-Häuschen, brachliegende Zechen und Fabriken sind Überbleibsel industrieller Blütezeiten. Die Wirtschaft fiel schon vor Jahrzehnten den Privatisierungs- und Anti-Gewerkschafts-Plänen von Premierministerin Margaret Thatcher zum Opfer. Trostlosigkeit zog in die Vorgärten der austauschbaren Häusersiedlungen ein. Das Grau ist trotz Investitionen vonseiten des Staats, etwa in den Tourismus, nicht verschwunden.
Mit 13 Jahren war Sarah Wilson bereits kokainabhängig und nahm Amphetamine. Vergewaltigungen gehörten zum Alltag. Manchmal holte sie ein Mann ab, und sie fuhren kilometerweit zu einem Ort, wo sie als billige Prostituierte gezwungen wurde, mit dutzenden Männern Sex zu haben. Einmal, so erinnert sie sich in ihrer Autobiografie „Violated“, lag sie auf einer dreckigen Matratze in der Dunkelheit. In irgendeinem Raum irgendwo in England. Nacheinander erschienen die Schatten mehrerer Männer. Sie legten sich abwechselnd auf sie, um sie zu vergewaltigen. Die Männer schwitzten. Und Sarah Wilson, vom Wodka benebelt, starrte wie in Trance auf die Spinnweben in der Zimmerecke. Ihr Kopf war leer.
Die Behörden wussten die ganze Zeit, über die Fälle Bescheid
Dass die Täter nicht schon früher zur Verantwortung gezogen wurden, lag keineswegs nur daran, dass die Kinder zum Stillschweigen gebracht oder psychisch zu Sklaven gemacht wurden. Selbst wenn sich die Opfer, die vorwiegend aus sozialschwachen Milieus kamen, jemandem anvertrauten, stießen sie bei den Behörden auf Unglauben. „Die Polizei sagte, ich lege es ja darauf an, und dass ich mir selbst keinen Gefallen tun würde, wenn ich mit diesen Typen abhänge“, erzählte ein anderes Opfer britischen Medien.
Auch Sarahs Mutter meldete ihre Tochter unzählige Male als vermisst, aber die Polizei zuckte kaum mit der Wimper. „In deren Meinung stimmten wir dem Ganzen zu. Da wir immer wieder zurück zu diesen Männern gingen, konnten sie uns ja kaum vergewaltigen“, sagt sie heute. Sich zu wehren war keine Option. Und ihre Sozialarbeiter? Die steckten sie in ein Heim, wo die Männer sie täglich abholten. „Wenn sie mich in den frühen Morgenstunden zurückbrachten, zahlte das Personal sogar die Taxigebühren.“
Warum also wurden die Beschwerden der Problemkinder ignoriert? Schlimmer noch: Wieso wurden in etlichen Fällen statt der Täter die Opfer belangt? Kritiker betonen, die tief verwurzelte Tradition des Klassensystems in Großbritannien spiele eine Rolle. Tatsächlich hielt sich die Überraschung der Briten in Grenzen, als bekannt wurde, dass die Opfer oft von den Behörden nicht ernst genommen worden waren. Immerhin stammen sie aus der untersten Gesellschaftsschicht des Königreichs.
Der Untersuchungsbericht geht davon aus, dass auch die Angst vor Spannungen mit Einwanderern muslimischen Glaubens ihren Beitrag leistete. Die Sorge, als rassistisch, islamfeindlich oder zumindest befangen gegenüber Asiaten zu gelten, wenn sie gegen die nach außen unbescholtenen, großteils pakistanischstämmigen Familienväter vorgegangen wären, führte dazu, dass die Sozialarbeiter nicht nachfragten. Politische Korrektheit als Entschuldigung fürs Wegschauen?
Medien kritisierten, dass die britische Kultur der Zurückhaltung und Höflichkeit auf der Insel mit Schuld an dem Desaster ist. „Mädchen wie ich haben nach Hilfe gerufen, aber keiner hat zugehört“, moniert Sarah Wilson, die mittlerweile eine Tochter hat und noch immer in Rotherham wohnt. Die Politiker seien besorgt gewesen, dass es Rassismus fördern würde, wenn sie das Problem angehen würden. Selbst jetzt tut sich das Land schwer damit, die richtigen Lehren zu ziehen. Dass es sich bei den Opfern vor allem um weiße, minderjährige Britinnen handelte, wirft nun wenigstens die Frage auf, ob die Bemühungen um eine Integration vieler Einwanderer und deren Kinder in das westliche Wertesystem misslungen sind.
Erst als Sarah Wilson 17 wurde, entkam sie der Hölle mithilfe ihrer Mutter und eines Freundes. Da hatten die Pädophilen das Interesse an ihr schon verloren. Sie war zu „alt“ geworden.