Sie hatten zwei Stunden Zeit, um ein ganzes Leben einzupacken. Vor einigen Tagen durften die ehemaligen Bewohner der Häuser unter der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua zurück in ihre Wohnungen. Feuerwehrleute begleiteten jeweils zwei Familienmitglieder, die dann in Windeseile ihr Hab und Gut einpacken sollten. Die Wohnhäuser müssen wohl abgerissen werden.
50 Kisten waren gestattet, zwei Stunden Zeit. „Das war nicht gerade viel“, sagt Giusy Moretti, eine der Betroffenen. Beim Einsturz des Viadukts am 14. August kamen nicht nur 43 Menschen ums Leben, mehr als 650 Personen verloren ihr Zuhause. Sie sind nun vorübergehend in Mietwohnungen in der Stadt untergebracht. Viele von ihnen, vor allem die Älteren, kommen täglich zurück an den Rand der „roten Zone“. Die heute wegen Einsturzgefahr der noch stehenden Pfeiler gesperrte Gegend war früher der Mittelpunkt ihres Lebens.
Frust nach Brückeneinsturz: Anwohner in Genua enttäuscht von Politikern
Am Donnerstag sind es hundert Tage, die seit dem Einsturz der Autobahnbrücke im Stadtgebiet von Genua vergangen sind. Beim Staatsbegräbnis einiger der Opfer im August applaudierten die Menschen den herbeigeeilten Politikern. Sie vertrauten auf deren Versprechungen, für sie etwas tun zu wollen. Inzwischen hat sich ein Gefühl von allgemeinem Frust verbreitet.
Genua ist drei Monate nach dem Einsturz immer noch eine geteilte und ins Chaos gestürzte Stadt. Details zum Wiederaufbau, ja nicht einmal für den Abriss der noch stehenden Brückenpfeiler gibt es nicht, alles scheint offen.
Bürgermeister Marco Bucci sagt: „Wenn wir alle an einem Strang ziehen, werden wir die Brücke aufbauen, aber auch die Glaubwürdigkeit Italiens in kurzer Zeit wiederherstellen. Wenn wir hingegen streiten, machen wir das, wofür wir im Ausland berüchtigt sind.“
Im Moment sieht es eher nach der zweiten Option aus. Seit dem Einsturz erstickt die 600.000-Einwohner-Stadt im Verkehrschaos. Weil die wichtigste Verbindungsachse zwischen Westen und Osten der Stadt unterbrochen ist, auf der jährlich 28 Millionen Fahrzeuge fuhren, staut sich der Verkehr auf den Umgehungsstraßen. Fast 100.000 Anwohner des Polcevera-Tals, über das die Autobahnbrücke führte, sind abgeschnitten und müssen lange Umwege fahren. Wer morgens in den westlichen Stadtteilen den Nahverkehr nutzen will, um ins Zentrum zu kommen, muss Schlange stehen, um in die Bahn oder den Bus zu gelangen.
In Genua herrscht Verkehrschaos nach Einsturz der Morandi-Brücke
Das Gewerbegebiet im Westteil der Stadt wird kaum noch angefahren. Denn auch Transportunternehmen sind zu kostspieligen Umwegen gezwungen. „Jede Fahrt kostet mich 100 Euro mehr“, schimpft etwa der Transportunternehmer Aldo Spinelli. Die Morandi-Brücke war die wichtigste Verbindung auch für Fernfahrer aus Spanien und Frankreich, die Waren nach Mittelitalien transportieren wollten.
Für die Stadtbewohner kommt hinzu: Seit Wochen herrscht ein Müllchaos in der Stadt. Eine Deponie wurde durch den Brückeneinsturz in Mitleidenschaft gezogen, seit den Unwettern in den vergangenen Wochen sind die Reinigungsbetriebe mit der Beseitigung von Schäden und vom Meer angespültem Unrat beschäftigt. Die Folge: Viele Mülltonnen bleiben ungeleert. Als sei der Gestank nicht genug, sind auch die Nachrichten aus Rom nicht gerade aufmunternd.
Allein die Ernennung eines Sonderkommissars, der Bauaufträge vergeben kann und den Wiederaufbau koordinieren soll, hat fast zwei Monate gedauert. Zum Kommissar wurde schließlich Genuas Bürgermeister Bucci ernannt. Der erklärte, der Abriss der noch stehenden Brückenteile solle am 15. Dezember beginnen, das neue Viadukt werde Ende des kommenden Jahres stehen. Als „völlig unrealistisch“ bezeichnen Kenner diese Prognose. Bereits die Einrichtung der Baustelle könne ein halbes Jahr dauern, sagen sie.
Erst vor wenigen Tagen verabschiedete die Regierung ein Notfalldekret. Darin wird unter anderem festgehalten, dass der Autobahnbetreiber Autostrade per L’Italia die Baukosten für die neue Brücke übernehmen soll. Dem Konzern wird vorgeworfen, die Wartung der Morandi-Brücke vernachlässigt zu haben. Derzeit untersuchen im Auftrag der italienischen Justiz Sachverständige in der Schweiz Brückenteile, um die genaue Unglücksursache festzustellen. In einem Prozess sollen dann die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Wie lange dieser dauern wird – auch das ist kaum abzusehen.