Das Kind soll für sie wie eine Sache gewesen sein, einen Namen brauchte es da nicht. In den bisherigen Vernehmungen nannten sie es nur „den Jungen“. Was ist das für eine Mutter, die ihr Kind missbraucht und an Pädophile verkauft? Was ist das für ein Lebensgefährte, der den Kleinen vergewaltigt? Die Menschen in Staufen haben sich die Köpfe zerbrochen über diese Fragen. So viel Grausamkeit in ihrem Städtchen, 8000 Einwohner, Breisgau-Romantik. Und jetzt der Prozess.
Woher Goethe seine Inspiration für den Faust nahm, ist leicht nachzuvollziehen. Vor dem Ort erhebt sich die Burgruine, das Wahrzeichen Staufens wenige Kilometer von Freiburg entfernt. An den Hängen wächst Spätburgunder und Chardonnay. Der Wein blüht früh dieses Jahr, das könnte die Lese gefährden. Der Sommerregen droht die Trauben zur Fäule zu bringen, die Ernte wäre dahin. Der historische Kern wird von einem Bach durchzogen, Kopfsteinpflaster ziert die Fußgängerzone, das Goethe-Haus, der Dekoladen Faust & Gretchen und die Faust-Apotheke erinnern an den berühmtesten Einwohner, Doktor Johann Georg Faust, und die wohl bekannteste gleichnamige literarische Aufarbeitung. Doch die malerische Kulisse hat Risse bekommen.
Im Januar wurde das Verbrechen an dem heute neun Jahre alten Jungen bekannt, der von seiner Mutter Berrin T. und ihrem Liebhaber Christian L. zigfach missbraucht und im Darknet, der Internet-Plattform für illegale Geschäfte, pädophilen Männern angeboten wurde. Mehr als zwei Jahre ging das so.
Ein Rückblick. Im März 2017 holte das Jugendamt den Jungen nach ersten Hinweisen auf mögliche Missstände aus der Familie. Doch das Familiengericht Freiburg entschied nach nur einem Monat, dass er wieder zu seiner Mutter zurücksoll. Der Lebensgefährte, ein vorbestrafter Sexualstraftäter, durfte offiziell keinen Umgang mit dem Kind haben. De facto ging er bei der Frau ein und aus. Es muss die Hölle für das Kind gewesen sein. Im September schließlich ging ein anonymer Hinweis beim Landeskriminalamt in Stuttgart ein. Die Polizei fischte eine belastende Festplatte mit Film- und Datenmaterial aus dem Stadtsee. Sie nahm das Paar fest, das Kind kam in staatliche Obhut.
Der Angeklagte spricht - aber Reue ist das nicht
Zwei der Männer, die sich an dem Kind vergangen hatten, standen bereits vor Gericht. Insgesamt gibt es acht Tatverdächtige. In einem Verfahren gegen einen Schweizer, das gerade vor dem Landgericht Freiburg läuft, hat der Lebensgefährte der Mutter am Mittwoch als Zeuge ausgesagt – und eingeräumt: „Dass ich der Haupttäter bin, ist absolut richtig.“ Reue oder Mitgefühl zeigte er trotzdem nicht. Der Hilfsarbeiter, 39, berichtete über seine Taten selbstsicher, fast geschäftsmäßig. „Dazwischen haben wir gelebt wie eine ganz normale Familie.“
Ab Montag steht er im Freiburger Hauptprozess selbst als Angeklagter vor Gericht – gemeinsam mit der 48-jährigen Mutter. Zumindest er will aussagen. Die Staufener werden den Atem anhalten, wenn es so weit ist.
Im Café Faller wird hervorragender Kuchen serviert. Draußen sitzen Motorrad- und Radtouristen, trinken Bier und erfreuen sich an der Beschaulichkeit der Stadt. Die Bedienung empfiehlt Heidelbeerkuchen. „Sind Sie wegen der Risse da?“, will die freundliche Dame wissen. Über dem Café zieht sich ein Riss durch die Fassade, darüber klebt ein Plakat: „Staufen darf nicht zerbrechen!“ Es sieht aus wie ein Pflaster. Dies hier ist das Ergebnis missglückter Geothermie-Bohrungen seit 2007, die zu Schäden an vielen historischen Gebäuden geführt haben. Was eine ziemliche Katastrophe ist, schließlich kommen gerade wegen der Altstadt jedes Jahr gut eine Million Touristen hierher.
Den Riss und das Pflaster kann man auch symbolisch sehen für das, was der Missbrauchsfall mit Staufen gemacht hat. Die Leute reden nicht gerne darüber, erzählt die Bedienung. „Da wird eher hinter vorgehaltener Hand getuschelt“, sagt sie. „Die Leute verdrängen es wohl.“ Der eine oder andere spricht an diesem Tag aber dann doch vergleichsweise offen.
„Furchtbar ist das alles“, sagt eine Frau, die mit ihren drei Freundinnen in der Sonne sitzt und Kaffee trinkt. „Ich habe eine Enkelin, die ist acht Jahre alt. In dem Alter spielt Sexualität doch noch gar keine Rolle.“ „Schrecklich“ findet es auch ihre Sitznachbarin. „Die rechtlichen Mühlen mahlen einfach zu langsam“, findet sie.
Die Frauen sagen: Dieses Kind hat keine Zukunft mehr
Und der Junge? „Dem kann nichts mehr helfen“, sagen sie. „Dieses Kind hat keine Zukunft mehr.“ Der Bub lebt mittlerweile abgeschottet von der Öffentlichkeit in einem anderen Ort. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, sagt eine Polizistin, die ihn regelmäßig besucht. Er sei „ein ganz Süßer“ gewesen, berichten die Frauen im Café. Immer höflich, vielleicht ein bisschen schüchtern. So beschreibt ihn Dietrich Henninges.
Der Mann hatte seine Souterrain-Wohnung an die alleinerziehende Mutter vermietet. Hartz-IV-Empfängerin sei sie gewesen. „Sie wurde von ihren ehemaligen Vermietern zur Besichtigung gebracht, die haben sie über den grünen Klee gelobt“, erzählt der 81-jährige Internist und heutige Rentner. Dabei hätten sie sie nur loswerden wollen. Die Frau habe ihm nie in die Augen blicken können: „Die hatte was zu verbergen.“ Henninges ist wütend. „Sie glauben ja nicht, wie empört ich bin“, sagt er: „So etwas habe ich noch nicht erlebt.“
Darum geht es in dem Freiburger Prozess
Angeklagte: Die Mutter des Kindes, Berrin T., 48, und ihr Lebensgefährte Christian L., 39. Beide sitzen seit ihrer Festnahme Mitte September in Untersuchungshaft.
Tatvorwurf: Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Tatverdächtigen mehrfache schwere Vergewaltigung, schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, besonders schwere Zwangsprostitution und die Verbreitung kinderpornografischer Schriften vor. Das heute neunjährige Kind soll über zwei Jahre hinweg im Darknet für Vergewaltigungen angeboten und in diesem Zeitraum vielfach missbraucht worden sein. Die Angeklagten sollen dies zum Teil gefilmt und die Videos dann verbreitet haben.
Prozess: Für die Verhandlung hat das Landgericht Freiburg insgesamt zehn Termine angesetzt: 11. Juni, 18. Juni, 19. Juni, 26. Juni, 27. Juni, 4. Juli, 5. Juli, 9. Juli, 13. Juli und 16. Juli. 13 Zeugen sollen vernommen werden, ein Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen soll die Notwendigkeit einer möglichen anschließenden Sicherungsverwahrung einschätzen. (mm)
Erst, als die Kripobeamten vor seiner Tür standen, wurde er hellhörig. Sie wollten wissen, wie oft Christian L. bei seiner Mieterin sei und ob er auch über Nacht bleibe. „Ja ist der denn pädophil“, habe der lange praktizierende Arzt gefragt. „Da haben die Beamten nur gelächelt. Und da wusste ich es.“ Nichts habe er bis dahin mitbekommen von dem Leid des Jungen. „Das alles hat sich ja auch nicht hier abgespielt. Da gab es einen Wohncontainer am Bahnhof, da hat das alles stattgefunden.“ Das alles.
Christian L. hat als Zeuge im Prozess gegen einen der „Kunden“ von „50 bis 60“ Vergewaltigungen des Kindes berichtet. Er selbst habe sich etwa ein Mal wöchentlich an dem Jungen vergangen.
Etwa neun Monate lang lebte die Mutter mit ihrem Kind in der Wohnung. „Die kam meistens mit dem Taxi“, erzählt eine Anwohnerin. Von ihrem Fenster blickt sie direkt auf die Souterrain-Wohnung nebenan. „Da brannte fast die ganze Nacht das Licht, das schien mir immer direkt ins Schlafzimmer“, erinnert sie sich. Der Junge sei „immer lieb und nett“ gewesen: „Da konnte einem nichts auffallen.“
Vielleicht, vermutet sie, hat die Mutter dem Kind eingebläut, nichts zu sagen. Die sei irgendwie „seltsam“ gewesen, machte einen verwirrten Eindruck. Der Mann, der habe was Aggressives gehabt, erzählt die Nachbarin. Sie ist dabei auszuziehen, wie viele in dem Mietkomplex. „Das ist hier ein Kommen und Gehen seit dieser Sache.“
Als Vermieter Henninges mitbekam, dass Christian L. dort ein und aus ging und irgendwann praktisch dort lebte („Der hat getrunken, geraucht und geschnarcht“), versuchte er der Frau zu kündigen. Doch das Gericht lehnte seine Klage auf Eigenbedarf ab, sein erwachsener Sohn durfte nicht einziehen. Inzwischen spitzte sich die Situation zu, häufiger sei es zu „Auseinandersetzungen“ gekommen. Henninges erzählt von Schreien des Kindes. „Ich will nicht“, soll es gerufen haben.
Der Arzt ist sauer - vielleicht auch auf sich selbst
Als das Paar verhaftet wurde, räumte der Arzt die Wohnung. „Sie glauben nicht, wie es da ausgesehen hat.“ Fotos hat er nicht mehr, eine Boulevardzeitung habe seine Speicherkarte unter einem Vorwand ausgeliehen. Als er sie zurückbekam, sei sie leer gewesen. Die Sachen der Frau hat er weggegeben. Inzwischen wohnt ein Bulgare mit seinem Sohn in der Wohnung. „Ein guter Mann“ – er weiß nichts von dem Skandal, der Staufen erschüttert, nichts über das Leid des Kindes, das hier lebte.
Henninges Vertrauen in die Menschheit ist erschüttert. „Wissen Sie“, sagt er, „der stärkste Trieb ist doch der Muttertrieb.“ Wie kann sie so etwas tun? Er will als Zeuge aussagen gegen die Frau, aber eine Ladung des Gerichts habe er noch nicht bekommen. „Ich werde den Mund aufmachen“, sagt er. Sauer sei er, vielleicht auch auf sich selbst. Weil er nicht früher etwas gesagt hat. Und weil „das nie mehr gut zu machen ist“. Der kleine Junge, der werde „nie mehr ein normales Leben führen können“.
Unten im Städtchen geht das normale Leben weiter. Auch der Tourismus. Bürgermeister Michael Benitz, 54, hat „bis jetzt noch keine negativen Auswirkungen feststellen“ können. Die Gäste schlendern durch die Straßen, schlecken Eis, blicken an den Hausfassaden hoch und bewundern das Idyll.
Trotz aller Risse. (mit anf)