Ein kleiner Junge mit Autismus revolutioniert die Forschung
Henry Markram ist ein bekannter Hirnforscher. Doch als bei seinem kleinen Sohn Autismus festgestellt wird, ist er zunächst hilflos. Die Geschichte einer Familie.
Das Auto rollte aus, vor ihrem Haus blieb es stehen. Ein junger Mann sprang heraus. Er klappte die Motorhaube auf. „Das darf nicht wahr sein!“, schimpfte er. Kai trat aus dem Vorgarten. Es war Vormittag, die Straße in Heidelberg lag verlassen da.
Kai, seine Eltern und seine beiden Schwestern wohnten auf dem Campus, ganz in der Nähe des Max-Planck-Instituts. Selten verirrte sich ein Auto her. „Hallo. Ich bin Kai.“ Der Mann beachtete ihn nicht. „Fährt dein Auto nicht?“ „Nein“, stieß der Student aus. Wie sollte er ins Institut kommen?
Er würde zu spät kommen. Am Tag des Examens! Er würde durchfallen. Kai drehte sich um und lief weg. Der junge Mann setzte sich wieder in den Wagen, drehte vergeblich den Zündschlüssel. Da kam schon wieder dieser Junge. Er hielt etwas in der Hand. „Hier, der Schlüssel meiner Mama“, sagte Kai. „Du kannst unser Auto nehmen.“
Lachend erzählt seine Mutter Anat Markram heute, wie sie den Studenten dann zur Uni fuhr. Die Familie kann viele solcher Geschichten über Kai erzählen.
Henry Markram ist einer der bekanntesten Hirnforscher der Welt
Kai, inzwischen 24, liebte schon immer Menschen. Oft löste er sich aus der Hand des Vaters und lief zu den Leuten hin: zu Passanten, Alten, die auf den Bänken saßen. Kai umschlang ihre Beine, ohne etwas zu sagen. Kai sprach mit den Händen. Und strahlte von innen.
Schon als Kai wenige Tage alt war, erkannte sein Vater, Henry Markram, dass Kai anders war. Ständig spürten seine Augen Geräuschen hinterher, als sei er im Alarmbetrieb. „Keine Sorge“, sagten die Ärzte, „alle Tests sind gut.“ Ein Unbehagen blieb. Markram war selbst Arzt, forschte am Max-Planck-Institut in Heidelberg.
Heute ist der Israeli einer der bekanntesten Hirnforscher der Welt. Er gewann Preise und initiierte ein Projekt, das sich vornahm, das Gehirn nachzubauen. Dazu schwang er sich zum Experten für Autismus auf.
Seit der Jahrtausendwende, so die US-Gesundheitsbehörde, hat sich die Zahl der autistischen Kinder verdoppelt. Eines von 68 Schulkindern habe demnach autistische Züge. Nach 15 Jahren der Forschung ist Markram zu Erkenntnissen gekommen, die ein völlig neues Licht auf Autismus werfen.
Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die im Erbgut angelegt ist
Auch mit drei Jahren wollte Kai kaum sprechen. Ihn trieb unbändiger Bewegungsdrang. ADHS, vermutete der Vater. Doch mit der Zeit wurden die Hinweise klarer. Kai aß nur ausgewähltes Essen, nahm alles wörtlich und legte den ganzen Tag Puzzle. Kai, der früher um die anderen kreiste, kreiste nun um sich selbst. Fast autistisch, sagte sich Henry Markram.
Autismus. Ärzte nennen es eine Entwicklungsstörung, deren genaue Ursache die Wissenschaft nicht kennt. Sie ist im Erbgut angelegt. Autisten können sich schwer in andere versetzen. Sie ziehen sich zurück, haben Rituale. Jeder Autist ist anders. Man spricht von einem Spektrum. Manche bedürfen der Pflege, andere leben ein normales Leben.
Sie wehren sich dagegen, „gestört“ genannt zu werden. Auch Henry Markram spricht lieber von einem atypischen Gehirn, nicht von einer Störung. Besonders bekannt ist das Asperger-Syndrom, das als milde Form gilt. Litt Kai daran? Die Ärzte widersprachen. Autisten gehen nicht so auf Menschen zu wie Kai. Er sei ja „hypersozial“.
Bei Kai wurde mit fünf Jahren Autismus diagnostiziert
Kai wurde schwieriger und der Vater ratloser. „Die meisten Menschen dachten ja, ich könnte meinem Kind mehr helfen als andere Väter. Aber ich fühlte mich ohnmächtig. Ich hatte das Gefühl, nicht nur als Vater zu versagen, sondern auch als Hirnforscher.“
Markram nahm eine Auszeit, ein Jahr Amerika. Was weiß die Forschung und was kommt davon in den Kliniken an? Wenig, musste er feststellen. Kai blieb ein Rätsel – im Urlaub trat er zur Kobra eines Schlangenbeschwörers und tätschelte sie.
Als Kai fünf Jahre alt war, kam endlich die Diagnose: Autismus. Das hieß damals: Mangel an Empathie, soziale Defizite. Therapie: Gehirn anregen. Aus Markrams heutiger Sicht alles falsch.
Die Sache mit der Empathie kam ihm von Anfang an zweifelhaft vor. Warum hatte er dann bei Kai das Gefühl, dass er ihn durchschaut? Wie schafft er es, Kamila und ihn zu piesacken? Kamila, seine zweite Frau. Sie kamen zusammen, als Kai sechs war. Kamila ist Biopsychologin und Verhaltensforscherin. Wenn Kai sie ärgern wollte, stellte er sich auf die Bordsteinkante. Er wusste, was das auslöst.
Sie gingen einen Weg, den in der Autismus-Forschung noch niemand ging
Sie wurden eine Patchwork-Familie. Die leibliche Mutter Anat war immer für Kai da, und Henry und Kamila versanken in der Autismus-Forschung. Was der Vater mit dem Mikroskop in der Zelle betrachtete, erkundete seine Frau im Verhalten. Sie vereinten ihre Stärken.
Zu einer Macht aber wurden sie erst durch Kai. Er brachte hinein, woran es der Wissenschaft oft fehlt: den ständigen Abgleich mit der Wirklichkeit. Zu dritt gingen sie einen Weg, den in der Autismus-Forschung so noch niemand gegangen war: die Verschmelzung von Leben und Lehre.
Dieses Tätscheln der Kobra, dieses Schockerlebnis, sollte zum Ausgangspunkt werden: Wo kam so etwas her? Nervenzellen können Signale verstärken oder schwächen. Den Impuls, eine Kobra zu tätscheln, sollte ein Gehirn hemmen. Lag hier das Problem? Zellen, die nicht hemmen?
Sie machten Laborversuche mit autistischen Ratten, testeten über Monate deren hemmende Hirnzellen. Nichts. Bis ihre Mitarbeiterin sagte: Was ist mit dem Gegenpart? Den Zellen, die Signale verstärken? Volltreffer!
Diese sind Hochleistungszellen, unglaublich lernfähig, Signalautobahnen, die Eindrücke rasen nur so. Nach vielen weiteren Versuchen konnten sie es kaum fassen: Autisten spüren nicht zu wenig, sie spüren zu viel. Ihr Rückzug ist keine Störung – er ist eine Reaktion. Kai war ein Junge, der zu viel fühlte.
Für Kai war alles zu laut und bunt, jeder Schmerz brannte sich ein
Er muss in einer ungeheuer intensiven Welt leben, sagte Kamila Markram. In einer Welt mit überwältigenden Eindrücken. Die Stimme der Mutter: ohrenbetäubend. Die Lampe: gleißend. Das Wolljäckchen: wie Schmirgelpapier.
„Als er ein Kleinkind war, hätten wir mit Kai anders umgehen müssen“, sagt der Vater. Ihn vor dem Übermaß schützen. Sie aber hatten ihn mit ins Kino genommen, sind mit ihm um die Welt geflogen, alles zu laut und bunt, dazu Medikamente, die das Gehirn anregten. „Wir hatten alles falsch gemacht.“
Das war doppelt schlimm. Nicht nur, dass die Tiere im Labor mehr empfanden, sie vergaßen auch nicht. So wie Kai nie vergaß, in welchem Zimmer er einst das Salatblatt aß, das Kamila ihm aufgezwungen hatte. Jeder Schmerz brennt sich ein, nährt den Rückzug.
Sie forschten weiter. Und fanden heraus, dass sich Ängste und Rückzug mildern und vermeiden lassen. Ein autistisches Kind sollte in einer normalen Welt aufwachsen, aber geschützt werden, wenn es Stresssymptome zeigt.
Dazu einfache Regeln wie: „Keine Computerspiele, keine Knallfarben und vor allem keine Überraschungen.“ Wenn darauf bis zum Beginn der Schulzeit Rücksicht genommen werde, sagt Henry Markram, ist die größte Gefahr gebannt: dass Teile des Gehirns in eine dauerhafte Überreaktion versetzt werden.
---Trennung Oft wenden sich Menschen von Kai ab Trennung---
Gehirne autistischer Kinder müssen 42 Prozent mehr Information verarbeiten
Es gibt Kritik an der „Theorie der intensiven Welt“ der Markrams, etwa Autismus sei zu komplex, um es allein damit zu erklären. Aber neue Studien stützen sie. Ärzte aus Toronto und Cleveland stellten fest, dass die Gehirne autistischer Kinder 42 Prozent mehr Informationen verarbeiten müssen.
Professoren in Harvard raten, Vorhersehbarkeit zu schaffen. Forscher in Boston stellten fest, warum Autisten Menschen nicht in die Augen schauen: Übersensibilität ist der Grund dafür.
Markrams wissenschaftliche Erkenntnisse sind auch in den Autismus-Film „Life Animated“ eingeflossen, der 2017 für den Oscar nominiert war. Er handelt von einem Kind, dem seine Rituale gelassen wurden: Disney-Filme schauen.
Eines Tages fand sein Vater heraus: Wenn er als Disney-Charakter auftrat, konnte das Kind reden. Er hatte sich in die Welt des Kindes begeben, und so fand es langsam heraus. „Die Leute sagen, Autisten fehlt Empathie“, sagt Markram. „Nein, uns fehlt sie. Für sie.“
Heute lebt Kai in Israel und besucht seinen Vater, so oft er kann
In Lausanne sitzt der Wissenschaftsverlag Frontiers, den die Markrams gegründet haben. Von hier aus blickt man über den Genfer See. Frontiers publiziert Zeitschriften und Studien. 500 Mitarbeiter, internationale Büros. Die erste Veröffentlichung des Verlags war ihre Arbeit über Autismus.
Im Leben mit Kai hat das alles verändert. Von da an hörten die Markrams auf, ihn in ihre Welt ziehen zu wollen. Sie schützten ihn vor einem Zuviel an Reizen, wählten seine Schule danach aus, sie planten mit ihm den Tag, hielten Versprechen.
„Das Zauberwort heißt Erwartungs-Management“, erklärt Henry Markram. „Wenn Autisten eine Sache erwarten und du etwas anderes tust, führt das zu einem Trauma. Du musst mit seinen Erwartungen Schritt halten. Klingt leicht, ist aber schwer.“
Kai lebt heute in Israel, bei seiner Mutter Anat. So oft er kann, fliegt er nach Lausanne, wo der Vater lebt. Kai kommt gern in den Verlag, wie an diesem Freitag, wo es in der Küche eine kleine Feier gibt und er Musik auflegt. In Vorfreude sitzt er in einer Nische, füllt am Handy Songlisten. Er hat ein schmales Gesicht, Bartflaum, trägt ein weites T-Shirt.
Kai hat zu oft erlebt, wie sich Leute von ihm abwenden
Er lacht, schaut seinem Gegenüber in die Augen, erzählt drauf los – vom Bowling, von der Musik, die er macht. Vor Aufregung verschluckt er Silben, zu oft hat er erlebt, wie Leute sich abwenden. „Ich fühle Dinge anders“, sagt er. „Früher hatte ich oft Ausraster. Aber ich bin erwachsen geworden.“
Nach der Schule, wo er in einzelnen Fächern einen Abschluss machte, arbeitete Kai in einem Archiv, nun ist er im Wachschutz an einem Gericht tätig. Er beruhigt durch seine Herzlichkeit, sein Anderssein die Atmosphäre, sagt Kamila Markram. Kai wird nicht betreut, sondern gebraucht.
Um 17 Uhr füllt sich die Küche. Plaudern, Lachen, auf dem Tisch stehen Saft, Sekt, Chips. Kai spielt erst Pop, dann eigene Songs, die er aufgenommen hat. Ein Mitarbeiter holt sein Saxofon und fängt an, in Kais Stücke hineinzuspielen. Man kann Kai wachsen sehen.
Er fängt an zu singen, über die Liebe, darüber, dass er mit Papa bowlen geht. Wenn ein Lied verklingt, applaudieren die Umstehenden. Henry hebt den Daumen, Kamila Markram lächelt mit den Augen. Kai wächst noch mehr und geht hin zu seinem Vater, der ihn neckt, weil er Schmusesongs singt, seit er eine Freundin hat.
Kai steht vor ihm, lacht und spielt mit Henrys Hemdknöpfen. Kai kennt das Mädchen von der Schule, zusammengekommen sind sie erst später. „Sie ist ein bisschen dick“, sagt er. „Aber ich liebe sie, wie sie ist. Du darfst niemanden ändern wollen.“
Lorenz Wagner hat für sein Buch „Der Junge, der zu viel fühlte“ die Familie Markram monatelang begleitet. Er war jahrelang Chefreporter der Financial Times Deutschland, heute arbeitet er für das SZ Magazin.
Die Diskussion ist geschlossen.