Die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest 2016 hatte nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb des Senders starken Protest ausgelöst. NDR-Redakteure kritisierten die Entscheidung in einem Brief. ARD-Programmdirektor Volker Herres hatte dem NDR eine vorschnelle Nominierung des umstrittenen Sängers vorgeworfen. Ralph Siegel tritt seit 1974 in jedem Jahr mit einem Song zum europäischen Schlager-Contest an. Außer im Jahr 2015. Da schickte er erstmals kein Lied ins Rennen. Dennoch kennt Ralph Siegel den europäischen Liederwettbewerb wie kein zweiter Deutscher.
Die Debatte über Naidoos ESC-Teilnahme geriet zur Posse. Was haben die ARD-Verantwortlichen falsch gemacht, damit es so weit kommen konnte?
Ralph Siegel: Wie ich bereits an anderer Stelle verlauten ließ, empfinde ich Xavier Naidoo als einen besonders guten Künstler, der Jahre lang bewiesen hat, dass er für Qualität und anspruchsvolle Popmusik steht. Vielleicht war die Tatsache, dass er sich politisch mehr als aus dem Fenster gehängt hat, nicht gerade vorteilhaft und man musste damit rechnen, dass aus diversen Reihen Gegenwind zu erwarten ist. Eigentlich schade, denn politische Ansichten sollten nicht das Kriterium für musikalische Leistungen sein, solange die Texte nicht zu fragwürdig und vehement parteiergreifend sind.
Thomas Schreiber und sein Team haben sicher darüber nachgedacht, aber diesen massiven Druck aus gewissen Kreisen unterschätzt. Der Rückzug des NDR von Naidoo war erwartungsgemäß mehr als spektakulär und nicht einfach und so wird das Thema noch länger die Medien beschäftigen. Jeder macht mal Fehler, aber sicher hat man es mit dem Künstler Naidoo gut gemeint und leider ist das schief gegangen. Ich hoffe, dass wieder ein Vorentscheid der alten erfolgreichen Schule - natürlich - mit neuer Klangfarbe - entsteht und der NDR als öffentlich rechtliche Sendeanstalt diesen Wettbewerb auch selbst veranstaltet und nicht wieder redaktionell in fremde beziehungsweise private Hände legt.
Können Senderverantwortliche besser über einen Song abstimmen als ein Publikum?
Ralph Siegel: Die Senderverantwortlichen haben es nicht ganz so einfach wie es aussieht, denn "ohne Künstler - keine Sendung" und so ist auch die Sendeanstalt in gewisser Hinsicht abhängig von der Musikindustrie, dem Management diverser Interpreten oder Bands. Natürlich sitzen bei den Sendern hervorragende Leute und Profis, die Erfahrung mit Musik sowie Entertainment haben und die Berater sind meist auch mehr als Fachleute auf diesem Gebiet. Die Problematik liegt dabei auch im Kampf um Einschaltquoten und so versucht der Verantwortliche - in diesem Fall Thomas Schreiber - eine publikumsfreundliche, interessante und erfolgreiche Sendung zu produzieren.
Die Protagonisten sind dann das Zugpferd für die Sendung und die leider so wichtige Einschaltquote. Die ARD sucht also einen Künstler, der Deutschland würdig und hoffentlich erfolgreich beim internationalen ESC vertritt und die Industrie sieht den ESC mehr als werbeträchtige Plattform für ihre Newcomer und im Frühjahr geplanten CD-Veröffentlichungen in Deutschland. Hier liegt ein Großteil des Problems, das sich nur lösen lässt, indem man Songs und Interpreten findet, die auch international gesehen von Anfang an eine gewisse Chance haben. Dazu braucht man international erfahrene Komponisten und Produzenten.
Welches Verfahren zur Findung des Künstlers würden Sie vorschlagen?
Ralph Siegel: Leider gehen meine Vorstellung von diesem Verfahren seit vielen Jahren nicht konform mit den Verantwortlichen, denn alles was mein Team und ich vorgeschlagen hatten, wurde in den vergangenen zehn Jahren abgelehnt und so hatten wir auch keine einzige Chance etwas Erfolgreiches dazu beizutragen. Wenn ich ab und zu lese. dass wir seit Jahren nicht erfolgreich sind, kann das natürlich nur daraus entstehen, dass wir nicht antreten konnten, um zu beweisen was vielleicht besser gewesen wäre. Als Deutscher im Ausland zu punkten ist dreimal so schwer und für San Marino (2015 trat San Marino mit einem Siegel-Song beim ESC an Anm. d. Red.) erst recht.
Auf der ganzen Welt versucht man immer die Profis ans Werk zu lassen. Russland oder Schweden beweisen immer wieder mit alten Machern und Komponisten wie Thomas G-son, dass der Song das Wichtigste ist und dann erst der Interpret. Mit wenigen Ausnahmen haben immer Künstler gewonnen, die international unbekannt waren. Lena ist ein gutes Beispiel, deren Song aus Amerika beziehungsweise Dänemark stammte und jahrelang in der Schublade eines Verlegers lag. Bei Conchitta Wurst ist es übrigens ebenso gelaufen.
Mein Vorschlag wäre, dass der NDR mal wieder auch die Leute einbezieht, die es schon mehrfach bewiesen haben. Stefan Raab und Dieter Bohlen haben immerhin schon mal den fünften Platz erreicht und das ist doch auch schon nicht schlecht. Jean Frankfurter wurde schon mal Sechster. Ich würde vorschlagen, dass der NDR wieder mit der Industrie in Verbindung tritt, ihre Vorschläge bewertet und den vier Herren Raab, Bohlen, Frankfurter und Siegel - acht mal international unter den ersten vier Plätzen vertreten - je eine Wildcard zukommen lässt, um je einen Interpreten ihrer Wahl, ins Rennen um die Fahrkarte nach Stockholm zu schicken. Der Ehrgeiz, dann einen besonders geeigneten Titel zu produzieren, wäre mehr als angestachelt und der NDR müsste dazu nur die Veranstaltung auf die Beine stellen, wie es in vergangenen Jahren in Bremen, Kiel oder Düsseldorf hervorragend gelaufen ist. Der ESC ist auch ein Komponistenwettbewerb und das sollte er auch in gewisser Hinsicht bleiben. Das Publikum kann dann entscheiden, wen sie nach Stockholm schicken wollen.
Unabhängig vom Verfahren: Wie beurteilen Sie Naidoos künstlerische Eignung für den Job?
Ralph Siegel: Diese Frage hat sich bereits erledigt. Naidoo tut mir mehr als leid!
Naidoo ist nun wohl keine Alternative mehr. Welche Künstler sehen Sie als Top-Kandidaten für die Teilnahme?
Ralph Siegel: Es kommt auf den Song an und nicht allein auf den Interpreten - Nicole, Katja Ebstein oder Lena Valaitis kannte international kein Mensch. MeKaDo, Sürpriz oder Dschinghis Khan ebenso nicht
Was muss ein Kandidat und sein Song mitbringen, um beim ESC ein gutes Ergebnis erzielen zu können?
Ralph Siegel: Eine gute eingängige Melodie, eine international verständliche Textidee und einen Künstler, der Charisma hat, tonsicher ist und perfekt singt - und ein bisschen Glück und professionellen Beistand mitbringt. Denn Regie, Licht und Ton spielen bei Liveauftritten in Fernsehen immer eine wichtige Rolle.
AZ/dpa