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Foto: Wolfgang Kumm, dpa
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Kathrin Kunkel-Razum ist Redaktionsleiterin des Duden.

Gender-Debatte
18.07.2021

Duden-Chefin: "Vielleicht müssen wir das einfach mal aushalten"

Von Sarah Schierack

Kathrin Kunkel-Razum leitet die Redaktion des Duden und ist so etwas wie die Hüterin der deutschen Sprache. Ein Gespräch über Lieblingswörter, das generische Maskulinum und enttäuschte Liebe.

Frau Kunkel-Razum, bitte verraten Sie mir: Was ist Ihr liebstes Wort in der deutschen Sprache?

Kathrin Kunkel-Razum: Ich bin da sehr meinungsfest: Es gibt wahnsinnig viele schöne Wörter, aber mein liebstes ist die "Augenweide". Der Begriff ist leider etwas im Verschwinden begriffen. Aber mir gefällt es, weil es so schön bildhaft ist. Und wenn es um ältere Wörter geht, dann finde ich den "Überschwupper" herrlich, das alte Wort für Pullover. Der Begriff findet sich in unserem Buch über Wörter, die nicht mehr im Duden stehen, weil sie kaum noch jemand verwendet.

Wie geht es Ihnen damit, dass Wörter, die Ihnen gefallen, verloren gehen?

Kunkel-Razum: Das ist für mich ein zweiseitiger Prozess. Denn es kommen auch immer neue Wörter dazu, das ist für mich sehr spannend. Und dann ist das natürlich ein Generationsunterschied. Ich bin jetzt 61. Klar, dass man in meiner Generation andere Wörter benutzt als es die jungen Leute tun. Das gehört zur Sprachveränderung dazu. Ich kann ja die Wörter, die wir aus dem Duden streichen, weiter benutzen, wenn mir das Spaß macht.

Werden Sie nach so langer Zeit immer noch von Wortneuschöpfungen überrascht?

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Kunkel-Razum: Der Überraschungseffekt ist nicht mehr so groß. Wenn man lange in der Duden-Redaktion arbeitet, versteht man irgendwann, wie die Prozesse funktionieren. Aber das Phänomen, wie viele neue Wörter wir bilden und wie schnell das geht, das finde ich immer wieder faszinierend. Viele Menschen sprechen heute zum Beispiel selbstverständlich vom Tindern. Das ist ganz typisch für das Deutsche: Wir haben ein Substantiv und machen sofort ein Verb daraus. Das fasziniert mich!

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Foto: Wolfgang Kumm, dpa
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Wie dokumentiert man eigentlich den Wandel der Sprache? Wie arbeitet Ihre Redaktion?

Kunkel-Razum: Wir nutzen das sogenannte Duden-Korpus. Das ist eine über Jahrzehnte aufgebaute, gigantische Sammlung digitaler Texte. Im Monat kommen ungefähr 25.000 Beiträge neu dazu, die meisten davon sind journalistische Texte. Wir können diese Sammlung nach bestimmten grammatischen Phänomenen durchsuchen oder nach neuen Wörtern fahnden. Tauchen die Wörter über einen längeren Zeitraum immer wieder auf, sind sie Kandidaten für den Duden. Wir beobachten also, was in der Sprache passiert und bilden das dann im Duden ab.

Vor einiger Zeit haben Sie und Ihre Redaktion Aufsehen erregt, weil der Duden in seiner Online-Form nun auch Erklärungen für weibliche Bezeichnungen abdruckt. Der Vorwurf lautete: Sie wollen die deutsche Sprache verändern.

Kunkel-Razum: Ich hole kurz aus, damit wir uns richtig verstehen: Weibliche Formen haben wir auch schon vorher im Duden abgedruckt. Der Unterschied ist, dass wir vergangenes Jahr angefangen haben, 12.000 feminine Formen zu sogenannten Vollartikeln auszubauen. Vorher waren es nur Verweisartikel. Unter "Bloggerin" stand also "weibliche Form von Blogger". Nun bekommen diese Einträge eigene Definitionen und sind damit gleichwertig zu den männlichen Artikeln. In der Folge haben wir auch bei den männlichen Formen eingegriffen. Bei Arzt steht nun zum Beispiel im Online-Duden explizit "männliche Person, die..." und früher stand da "jemand, der...".

Einige Kritiker sind der Meinung, sie schaffen damit heimlich das generische Maskulinum ab, also die geschlechtsneutrale Verwendung von maskulinen Wörtern.

Kunkel-Razum: Das Adjektiv "heimlich" hat uns sehr irritiert, denn der Duden macht nichts heimlich. Wir sind ein Unternehmen, das davon lebt, unsere Arbeit zu veröffentlichen. Dass drei Wörter einen solchen Sturm der Entrüstung auslösen können, verstehe ich noch immer nicht. Wir schaffen das generische Maskulinum nicht ab. Wir zeigen es nach wie vor in den Beispielen, die in jedem Eintrag auf Duden online zu finden sind. Aber wir gehen davon aus, dass die Kernbedeutung von "der Arzt" die männliche Person ist. Davon abgeleitet gibt es eine spezifische Verwendungsweise, die geschlechtsübergreifend genutzt wird. Wir haben diese Änderung auf Basis eines - wie wir feststellen - veränderten Sprachgebrauchs eingeführt. Heute wird viel öfter als früher von "die Ärztinnen und Ärzte" gesprochen. Das bringt mit sich, dass man generisch verwendete Formen immer stärker hinterfragt und überlegt: Sind Frauen mitgemeint oder nicht?

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Foto: Wolfgang Kumm, dpa
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Hat das generische Maskulinum aus Ihrer Sicht ausgedient?

Kunkel-Razum: Ich würde meinen Kopf nicht darauf verwetten. Es kann aber ganz klar in der Sprache beobachtet werden, dass es immer stärker hinterfragt und zurückgedrängt wird.

Die Kritik hat sich auch an Wörtern wie "Gästin" und "Bösewichtin" entzündet. Zucken Sie als Sprachwissenschaftlerin da nicht auch manchmal zusammen?

Kunkel-Razum: Nee, ehrlich gesagt nicht (lacht). Vor allen Dingen ist das einfach falsch. "Gästin" und "Bösewichtin" sind keine Duden-Neuschöpfungen. Das sind ganz alte Wörter, die stehen beide schon im Grimm’schen Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert. Für die Begriffe finden wir im besagten Duden-Korpus nicht zu knapp Belege. Die Wörter sind auch nicht jetzt erst aufgenommen worden, sondern sie stehen seit 2006 beziehungsweise 2009 im gedruckten Duden.

Was ist denn Ihre Meinung als Sprachwissenschaftlerin: Braucht es zum besseren Verständnis von Texten nicht eine einfache Verwendungsform, die alle Menschen meint?

Kunkel-Razum: Klar ist es wunderbar, wenn es das gibt. Das erleichtert vieles in der Sprache. Aber nun sind offenbar große Teile der deutschen Sprachgemeinschaft zu der Einschätzung gekommen, dass die Form, die lange dafür hergehalten hat, Probleme bereitet. Man hat die Mängel der einen Variante also erkannt, gleichzeitig wird gerade viel experimentiert, welche andere Form oder Formen es geben könnte. Das ist eine Phase, in der nicht alles festgezurrt ist. Vielleicht müssen wir das einfach mal aushalten.

Einige Menschen haben das nicht ausgehalten und Ihnen böse Briefe geschrieben. Sogar eine Petition gegen die gegenderten Bezeichnungen wurde ins Leben gerufen. Haben Sie es manchmal bereut, dass Sie mit dem Duden diesen Weg gegangen sind?

Kunkel-Razum: Bei einer so massiven Gegenwehr haben wir uns schon hinterfragt. Wir hatten natürlich auch schlaflose Nächte. Aber bereut haben wir den Schritt nicht.

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Die Debatte zeigt, was für eine Wirkmacht der Duden hat. War Ihnen das vorher bewusst?

Kunkel-Razum: Es ist mir wieder einmal bewusst geworden. Für mich ist es ein Phänomen, dass eine Marke so starke Emotionen auslösen kann. Ich habe das schon einmal erlebt: 1997 wurde ich mit mehreren Kolleginnen in der Duden-Redaktion eingestellt, um die Konsequenzen der Rechtschreibreform in die Wörterbücher und Grammatiken zu bringen. Das war ja auch eine hochemotionale Zeit.

Kann man beide Situationen vergleichen?

Kunkel-Razum: Ich denke, dass die Debatte um das Gendern breiter geführt wird, weil über das Internet viel mehr Menschen die Gelegenheit haben, sich dazu zu äußern. Das war 1997 anders, da haben die Menschen noch Briefe geschrieben. Allerdings muss man auch sagen, dass ich noch nie so viele Briefe bekommen wie im vergangenen halben Jahr. Daran merke ich, wie sehr Sprache Teil der Persönlichkeit jedes Einzelnen ist. Wenn dann irgendwelche Dinge kommen, die diesen Teil berühren, dann wird es sehr herausfordernd und extrem emotional. Das kann ich für beide Beispiele sagen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Kunkel-Razum: Ich bin natürlich keine Psychologin, aber bei der Rechtschreibreform ging es sicher auch darum, dass Rechtschreibung mit Prestige einher geht. Die neuen Regeln haben dann ganz viele Menschen verunsichert. Da gab es Angst, sich zu blamieren oder den Enkelkindern nicht mehr helfen zu können. Beim Gendern hat das meiner Meinung nach auch etwas mit Macht zu tun. Anders kann ich mir das nicht erklären. Die Briefe, die ich erhalte, bedienen wirklich jedes Klischee. Sie kommen überwiegend von älteren Männern. Bei mir landen zurückgeschickte Duden-Bände, uralte Auflagen. In den Briefen wird gedroht: "Ich kaufe nie wieder einen Duden." Das ist vergleichbar mit einer Liebe, die schmerzhaft zu Ende geht.

Viele dieser Kritiker wollen, dass die Sprache nach festen Regeln funktioniert. Regeln, die der Duden vorgibt. Aber ist das überhaupt möglich?

Kunkel-Razum: Es gibt nur einen einzigen Bereich in der Sprache, für den es amtliche Regeln gibt. Das ist die Rechtschreibung. Für den Rest gibt es eher Gebrauchsnormen, die veränderlich sind. Wir als Duden sehen unsere Aufgabe darin, Leitplanken aufzustellen. Damit geben wir Halt und Orientierung, dazwischen ist aber auch immer Spielraum.

Wie halten Sie es denn persönlich mit dem Gendern?

Kunkel-Razum: Ich orientiere mich daran, wem ich schreibe. In einer WhatsApp-Nachricht an Freundinnen benutze ich das Gender-Sternchen. Wenn ich zum Beispiel an ein Ministerium schreibe, dann tue ich das nicht, weil ich schon qua meines Amtes an das Regelwerk des Rats für deutsche Rechtschreibung gebunden bin, der keine Sonderzeichen im Wortinneren vorsieht. Dann suche ich mir andere Formen des Genderns.

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