Die Sorge, Millionen Rechner würden auf 1900 statt auf 2000 umspringen oder überhaupt mit dem Wechsel auf "00" nicht klarkommen. Aus Angst zum Beispiel vor Unfällen in Atomkraftwerken investierte die Industrie viele Millionen Euro. Es ging gut. Zehn Jahre später sind Computer und Technik in unserem Leben viel präsenter und trotzdem nicht jedem geheuer.
Ein Jahrzehnt geht zu Ende und bei der Frage was bleibt, gibt es oft die gleiche Antwort: Es ist alles furchtbar schnell geworden, Reize allerorten, kein Wunder, dass gerade viele Städter, die in der Woche rastlos von Termin zu Termin hetzen, sich am Wochenende nach einem Landleben mit intakter Nachbarschaftskultur sehnen.
Wer in Berlin U-Bahn fährt, hört wenig Gespräche, stattdessen werden Stöpsel ins Ohr gesteckt, Videos geschaut, Musik gehört, SMS geschrieben, Bilder verschickt, telefoniert. Wenn mal ein paar Stunden ein Handy-Netz ausfällt, ist die Verzweiflung groß. Und das Funkloch lässt Reisende im Zug fluchen.
Die Automatisierung des Lebens, die zugleich immer ein Abbau von Arbeitsplätzen ist, schafft heute ganz neue Branchen. Kurse für Senioren zur Orientierung im Automaten-Dschungel etwa verbuchen regen Zulauf. Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages mal im Supermarkt uns selbst abkassieren können, Postpakete in anonyme Boxen stecken und ohne Satellit uns nicht mehr in der Lage fühlen, mit dem Auto ans Ziel zu finden. Und dass viele Menschen mehr Freunde online haben als in der realen Welt (Stichwort: soziale Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ). Schon stellt sich die Frage: Was passiert eigentlich mit dem virtuellen Nachlass (Mails, Homepage), wenn man eines Tages stirbt?
Auch im Privaten hängt unser Glück vom Computer ab, die Windows- Melodie beim Hoch- und Runterfahren des Rechners wird zum Soundtrack der Nuller Jahre. Wehe, die Festplatte schmiert ab - dann bricht eine Welt zusammen. Und der USB-Stick wird zum Symbol der "Nuller": Statt Aktenmeter im heimischen Bürozimmer aneinanderzureihen, speichern wir Tausende von Texten, Fotos und Filmen auf kleinen Speichermedien. Unser ganzes Leben lässt sich nun auf eine CD-Rom pressen. "Das Internet vermanscht unser Hirn", findet der "F.A.Z."-Mitherausgeber Frank Schirrmacher. Die Informationsflut und das Multitasking erschöpften uns geistig. "Wir werden ständig durch Mails, SMS, Nachrichten gestört - das ist tatsächlich so etwas wie Körperverletzung."
Der Kölner Politologe Thomas Jäger definiert die Globalisierung als "die gegen Null tendierende Komprimierung der Faktoren Raum und Zeit für weite Bereiche menschlichen Handelns". Wir sind immer auf dem Sprung, jetzt hier, gleich da. Wir finden Gefallen am "Speed-Dating". Der "Coffee To Go" wird zum Lebensgefühl und "Freizeitstress" zum geflügelten Wort. Der Kopf kommt kaum mit, man will - oder muss - oft drei Sachen gleichzeitig machen. Das Handy klingelt, eine Mail poppt auf, und wir müssen von vorne beginnen, uns zu konzentrieren.
So wächst auch der Wunsch nach einer Wiederentdeckung der Langsamkeit. Denn der Druck in Schule, Studium und Beruf steigt. Vier Millionen Menschen leiden an Depressionen. Burn-Out ist keine Nischenerscheinung mehr. Uns geht manchmal der Blick für den anderen verloren, Tim K. (Winnenden) und Robert S. (Erfurt) erschüttern uns mit Amokläufen.
Der große Fluss des Lebens fließt heute derart schnell, dass viele Ereignisse einem schon wieder so weit weg erscheinen, dass sie fast historisch wirken: Die Terrorangriffe auf die Twin Towers in Manhattan und das Pentagon in Washington 2001. Der Tsunami an Weihnachten 2004 tötet etwa 230 000 Menschen. Papst Johannes Paul II. stirbt im April 2005. Der Deutsche Joseph Ratzinger wird als Papst Benedikt XVI. sein Nachfolger: "Wir sind Papst".
Der Terror und seine Bekämpfung werden zum großen Thema der Dekade. Der Faktor Angst dominiert ganze Gesellschaften. Wie bei Ampeln wird in den USA die aktuelle Terrorgefahr angezeigt. Ein weltweiter Kampf gegen den islamistischen Terrorismus beginnt, der zugleich Zwietracht sät und zum größten Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan führt (zurzeit 4500 Soldaten). Deutschlands Sicherheit wird nun auch am Hindukusch verteidigt - der Kampf der Kulturen kann aber glücklicherweise vermieden werden.
Im Irak wird Saddam Hussein gestürzt und später gehenkt - dass seine Hinrichtung per Handy gefilmt wird, passt ins Bild des Jahrzehnts, wo alles öffentlich wird, millionenfach verbreitet bei YouTube. Und dann endet das Jahrzehnt irgendwie auch wieder in New York, diesmal kracht die Investmentbank Lehman Brothers zusammen (September 2008) und löst damit an den Finanzmärkten ein Beben aus, das die kommende Generation bei den Staatsschulden auszubaden hat. Der Staat pumpt Milliarden in "notleidende Banken". Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann ist nicht mehr zum Zeigen des Victory-Zeichens zumute. Der Kapitalismus krankt, Mittellosen werden Kredite zum Häuserbau aufgeschwatzt.
Vor allem der erste schwarze US-Präsident soll den Karren aus dem Dreck ziehen, doch die vielen Baustellen sind komplizierter als es sich in den visionären Reden Barack Obamas anhört. Dass er als Vorschuss gleich den Friedensnobelpreis bekommt, macht es nicht leichter. Afghanistan? Keine Lösung erkennbar. Israel? Baut trotz des US-Widerstands weiter Siedlungen. Iran? Kein Einlenken im Atomstreit erkennbar. Guantánamo? Kann doch nicht bis Anfang 2010 geschlossen werden.
Und was ist in Deutschland passiert? Rot-Grün besiegelt den Atomausstieg (2001). Aus der D-Mark wird der "Teuro" (2002), Hartz IV zur Chiffre für Sozialabbau (2003). Pisa bringt das Bildungssystem ins Wanken (2001) und die Linke die Parteienlandschaft (2005). Eine Ostdeutsche wird und bleibt Kanzlerin (2005/2009). Wir berauschen uns am fußballerischen Sommermärchen (2006), freuen uns über gesellschaftliche Veränderungen: Ein Adoptivkind aus Vietnam wird Gesundheitsminister, ein offen schwuler Mann Außenminister (2009). Ein Torwart löst eine Anteilnahme aus, die die Frage aufwirft, was der Tote selbst davon gehalten hätte? Es ist auch ein Jahrzehnt der Doppelmoral: Wie viele der Trauernden hätten Robert Enke belächelt, wenn er seine Depression öffentlich gemacht hätte?
Vieles ist plötzlich nicht mehr so wie es mal war: Quelle und Karstadt gehen unter. Adolf Merckle, ein deutscher Unternehmens- Patriarch alter Schule, sieht sein Lebenswerk zerstört und lässt sich von einem Zug überfahren (2009). Krise ist ein Wort, das in der Politik besonders die SPD mit ihrem Absturz auf 23 Prozentpunkte mit Leben füllt. Waren die 80er die Hochphase politischen Engagements ("Atomkraft? Nein danke"), wirkt die Demokratie in den Nuller Jahren gefährlich blutleer.
Bildung - die Studenten gehen auf die Barrikaden, haben aber das Problem, dass fast alle ihre Forderungen teilen - und Integration werden zu gesellschaftspolitischen Topthemen. Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin löst eine Debatte aus, als er den Integrationswillen von Türken und Arabern infragestellt. Eine große Zahl von ihnen in Berlin habe keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel. "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert."
Und sonst? Wie fühlen wir uns? Die EU schweißt zusammen - wir leben in einer historischen Friedenszeit. Ja, wir werden offener und entspannter. 2006 ist die Welt wirklich zu Gast bei Freunden. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft - die Zahl der Singles steigt aber immer weiter an. Bis 2060 könnte die Bevölkerung von 82 auf 65 Millionen schrumpfen. Dann leben wahrscheinlich genauso viele Über-80-Jährige im Deutschland wie Teenager und Kinder. Die Rentner werden zu "Best-Agern". Sie sind agil wie nie - wenn aber bald 100 Erwerbstätige 50 Rentner finanzieren müssen, droht ein Generationenkonflikt.
An den Jungen nagen die Zweifel. Wie und wo will ich leben? Bekomme ich einen Job? Das Prekariat ersetzt das Proletariat. Wir sind Gefangene der schönen neuen Welt. Die Vielfalt überfordert uns, hier das Fitness-Studio, da meine Chats. Jeder ist mit jedem in Kontakt und fast überall erreichbar. Man rotiert zwischen mehreren Email-Zugängen und so mancher Bewerber scheitert, weil der Chef Jugendsünden "ergoogelt". Die Gemeinschaft schwindet, der Fernseher und Computer ersetzen oft das gemeinsame Diskutieren am Küchentisch.
Insgesamt wird alles etwas amerikanischer. Kommunen wagen Cross-Border-Leasing-Geschäfte und sehen in Zeiten der Finanzkrise die Felle davonschwimmen. Nach Feierabend geht es zum Work-Out. Nur George Bush mögen wir nicht, dafür Obama umso mehr. Auch unser Fernsehen nimmt Anleihen in Amerika. Talk-Shows, Koch-Shows oder Reality-Shows ("Big Brother") - überall kann man dabei sein und zum Drei-Wochen-Star werden. Daniel Küblböck wird zur Chiffre für das Jedermann-Syndrom. Deutschland sucht den "Superstar" oder "Germany's Next Topmodel" - die Casting-Welle bricht über uns herein. Man schämt sich fremd. Das Fernsehen, auch das öffentlich-rechtliche, verliert an Niveau. Das findet nicht nur Marcel Reich-Ranicki.
Der Satiriker Martin Sonneborn bilanziert: "Das westliche Weltbild ist in diesem Jahrzehnt ins Wanken geraten. Unsere Banker haben einen schlechteren Ruf als Hütchenspieler und Trickbetrüger, unsere Soldaten stellen überrascht fest, dass sie mit ihren Gewehren auch herumschießen sollen und unsere Volksparteien sind keine Volksparteien mehr."