Heute weiß er: Die DDR war der Glücksfall seines Lebens. Der Jackpot, wie er sagt. Ohne die DDR wäre er nie Kind Nummer 12 in Gruppe 4 geworden. Dann hätte er niemals Helmut Kohl getroffen und auch höchstwahrscheinlich nie seine Frau Marion kennengelernt. Baby Laurenz, das gerade im Hintergrund quäkt, würde es ebenfalls nicht geben. Und Herbert Grönemeyer und Hameln wären für ihn einfach nur ausländische Wörter. Hätte er das alles als 15-Jähriger schon gewusst, damals, vor 25 Jahren, er hätte vielleicht weniger Angst vor der Wende in Deutschland und der seines Lebens gehabt. Damals sagte man nur zu ihm: Das Projekt ist vorbei. Du musst jetzt weg aus der DDR. Zurück nach Namibia. In ein Land, das andere seine Heimat nannten, das ihm aber in elf Jahren so fremd geworden war wie seine Muttersprache Oshivambo.
Die Geschichte beginnt am 18. Dezember 1979. An diesem Tag bestieg der vierjährige Andreas Nghumbavali Shiyoo in Luanda zum ersten Mal in seinem Leben ein Flugzeug. Ohne seine Oma, die mit ihm wegen des Krieges in Namibia in das angolanische Flüchtlingslager Kwanza Sul geflohen war. Ohne seine Mutter, die in seinem Geburtsort Eenhana geblieben war und auf das Hab und Gut der Familie aufpasste. Ohne seinen Vater, der für die South-West Africa People’s Organisation (Swapo) gegen die südafrikanischen Besatzer kämpfte. Und auch ohne seine Geschwister. Der Vierjährige hatte keine Ahnung, wohin genau ihn das Flugzeug bringen sollte. Mit den Worten DDR und Schloss Bellin hätte er ohnehin nichts anfangen können. Er wusste nur: Er kommt in Sicherheit. Weg vom Krieg und weg vom Hunger. 79 andere Kinder aus Namibia waren bei ihm. Wie er kamen sie aus Flüchtlingslagern in Angola oder Sambia, waren Waisen oder Kinder von hohen Swapo-Funktionären, einige von ihnen waren traumatisiert vom Krieg.
Als Andreas Shiyoo im Dezember 1975 nördlich des Etosha-Nationalparks geboren wurde, herrschte in Namibia ein Unabhängigkeitskrieg, in den sich auch andere Länder einmischten. Die DDR unterstützte die sozialistisch geprägte Swapo, deren Chef Sam Nujoma mit der SED-Regierung ein geheimes Projekt vereinbarte: Namibische Kinder werden in der DDR zu guten Sozialisten erzogen und bauen dann als neue Elite Namibia auf. Das war der Plan. Shiyoo wurde ein Teil davon.
DDR-Kinder aus Namibia: Die Süßigkeit aus der Tube
Die Kinder landeten nachts in dem fremden Land. Andreas schlief und wurde von einem Erzieher ins Bett getragen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, wusste er nicht, was dieses riesige Steingebäude war. In seiner Sprache gab es keinen Ausdruck für „Schloss“. Deutsch musste er erst noch lernen. Aber das Weiße, das er draußen vor dem Fenster in der Landschaft liegen sah, das kannte er: Zucker! „Wir liefen hinaus und wollten ihn essen – und dann schrien wir, als das weiße Zeug kalt und überhaupt nicht süß war“ – sein erstes Erlebnis mit dem ihm unbekannten Schnee ist die älteste Erinnerung, die der 39-Jährige mit der DDR verbindet. Zahnpasta war für die Kinder ebenfalls neu: Sie hielten sie zunächst für eine leckere Süßigkeit aus der Tube. „Wir probierten alles aus“, sagt Shiyoo.
Broiler, Datsche, Polylux: So sprach die DDR
Von den mehr als 1000 Wörtern, die typisch für die Sprache der DDR waren, haben sich nur wenige gehalten. Noch weniger schafften den Sprung nach Westen. Einige Beispiele:
Begriffe aus der DDR-Sprache, die nach der Wende schnell verschwanden, waren zum Beispiel Abschnittsbevollmächtigter,...
Arbeiter-und-Bauern-Staat...
VEB (volkseigener Betrieb)...
Jahresendprämie...
Winkelement...
und Planauflage.
Wörter aus der DDR-Alltagssprache, die nach der Wende oft durch "Westdeutsch" ersetzt wurden, sind zum Beispiel
Kaufhalle (Supermarkt)...
Feinfrost (Tiefkühlware)...
Plaste (Plastik)...
Kaderakte (Personalakte)
Popgymnastik (Aerobic)...
Schallplattenunterhalter (DJ oder Discjockey)...
und Polylux (Overheadprojektor).
Zum DDR-Vokabular, das Eingang in die gesamtdeutsche Standardsprache fand, gehört etwa abnicken...
andenken...
Fakt ist...
orientieren auf...
und alleinstehende Mutter.
"Wenderesistente" Worte, die weiter fast ausschließlich in Ostdeutschland benutzt werden, sind zum Beispiel Broiler,...
Datsche...
sich einen/keinen Kopf machen...
Soljanka...
Sättigungsbeilage...
und Arbeiterschließfach.
Am 19. Dezember 1979 wurde Andreas Nghumbavali Shiyoo aus Eenhana zu Kind Nummer 12 der Gruppe 4 auf Schloss Bellin. „Sie mussten uns Nummern geben, wir sahen für die DDR-Erzieher ja alle gleich aus.“ Bald spürte das Kind zum ersten Mal so etwas Unbekanntes wie Sicherheit. „Wir hatten in Angola immer in Angst und Schrecken gelebt. Wir versteckten uns unter Büschen und hörten Flugzeuge und Schüsse. Wir hungerten und aßen Sand. Nun hatten wir keine Angst mehr. Es gab zum ersten Mal Struktur in unserem Leben. Feste Tagesabläufe. Ich fühlte mich wohl“, sagt Andreas Shiyoo. Er klingt wie ein waschechter Niedersachse. An das Ende der Sätze hängt er ab und zu ein „ne“, wie es die Menschen im Weserbergland rund um Hameln gerne tun. „Ja, das war auch damals schon kurios, wir waren die Einzigen in der Gegend, die Hochdeutsch sprachen. Alle anderen sprachen mit Ost-Dialekt.“
Außerhalb des Schlosses, in der Schule, war Hautfarbe plötzlich ein Thema. Ebenso in Staßfurt bei Magdeburg, wohin 1985 einige Gruppen ausgelagert wurden, als immer mehr Kinder aus Namibia nachkamen. Da waren weiße Menschen, die starrten. „Sie dachten, wir seien aus Schokolade. Manche wollten uns anfassen. Irgendwie fanden wir das lustig. Wir waren immer die Attraktion, wenn wir wo auftauchten“, erinnert sich Shiyoo, „als wir älter wurden, wechselte das in Neid und am Ende dann in Aggression und fremdenfeindliche Sachen, da flogen Steine, es gab Prügeleien und ehemalige Freunde riefen plötzlich ,Ausländer raus‘.“ Das Ende, das er meint, war die deutsche Wende.
Heimlich die Spiele von Werder Bremen im Radio gehört
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel und seine Heldin Nena „Wunder geschehen“ sang, war Andreas 14 Jahre alt. Er sah gebannt auf die Bilder im Fernsehen und konnte die historische Dimension des Ganzen noch nicht verstehen. „Es wird schon so weitergehen“, dachte er. Er hatte jahrelange Gehirnwäsche hinter sich. Die deutschen und die namibischen Erzieher hatten die Kinder auf Swapo-Linie gebracht, sie im Hof „Viva Swapo“ und „Viva Nujoma“ rufen lassen und auf Nachtmanöver geschickt. Und er hörte auch immer wieder, dass der Westen schlecht sei. Als Teenager zweifelte er aber schon daran. Seine Fußballkameraden von Aktivist Staßfurt hatten ihm vom Westen erzählt und er konnte daran nichts Schlimmes finden. Heimlich präparierte er sein Radio mit einem Draht, damit er die Spiele seines Lieblingsvereins Werder Bremen hören konnte.
Heute weiß er: Während sich Deutschland im Wiedervereinigungstaumel befand, entschieden Politiker auch über das Schicksal der 400 afrikanischen DDR-Kinder. Die Bundesregierung sah sich nicht zuständig. Im August 1990 erfuhren die Kinder im Ferienlager: Es geht zurück nach Namibia, das gerade unabhängig geworden war und nun von Präsident Sam Nujoma geführt wurde. Der wusste aber mit seiner Nachwuchselite aus der DDR nichts mehr anzufangen.
„Das war ein Riesenschock“, erinnert sich Andreas Shiyoo. Aus der Traum von einer Diplomatenlaufbahn. Er fühlte sich von der Swapo im Stich gelassen und wusste nicht, wie es überhaupt weitergeht. Sein Vater war 1983 gefallen. Zu seiner Familie hatte er keinen Kontakt. Seine Mutter sollte er erst per Zufall nach der Jahrtausendwende wiedertreffen. Man drückte ihm die Adresse des Swapo-Hauptquartiers in die Hand und schickte ihn per Flugzeug zurück. In Namibia angekommen, fühlte er sich entwurzelt. In der DDR war er der weiße Afrikaner und in Afrika der schwarze Deutsche. Man nannte ihn „Duitser“ – Deutscher auf Afrikaans.
Die Allgemeine Zeitung in Namibia berichtete über die verlorenen Kinder aus der DDR. Ein Hamburger Geschäftsmann las das. „Ich hatte Riesenglück. Er finanzierte meine Schule und das Internat.“ An den Wochenenden besuchte Shiyoo eine deutschstämmige Farmersfamilie. „Gott sei Dank war ich ein guter Sportler, so konnte ich mir durch Leistung Respekt verschaffen“, sagt er und ist dann kurz abgelenkt. Sein fünf Monate alter Sohn ist gerade quäkend aufgewacht und katapultiert seinen Vater schlagartig zurück in die Gegenwart, nach Klein Berkel bei Hameln. Laurenz’ Intermezzo ist nur kurz, sofort ist sein Vater im Kopf wieder im Namibia der 1990er Jahre, in dem er sich überhaupt nicht heimisch fühlte. So ging es den meisten der zurückgekehrten DDR-Kinder. Viele verkrafteten den Schock irgendwie, einige zerbrachen auch daran und rutschten in die Kriminalität oder in die Prostitution ab. Andreas Shiyoo aber traf Helmut Kohl. Der deutsche Wendekanzler leitete auch eine private Wende ein.
Das Interview mit Helmut Kohl
1994 machte Shiyoo eine Ausbildung zum Journalisten bei Radio 99 in Windhuk. Als Moderator der Sendung „Hallo Deutschland“ musste er eines Tages den Staatsgast Kohl interviewen. „Er fragte mich, weshalb ich so perfekt Deutsch spreche. Als ich ihm erzählte, dass ich in der DDR aufgewachsen bin, sah er mich perplex an und sagte ,echt?‘.“ Damals hatte Shiyoo das Gefühl, der Kanzler kannte die Geschichte der schwarzen DDR-Kinder wirklich nicht. Heute denkt er, eigentlich hätte Kohl es wissen müssen, seine Regierung hat schließlich das Projekt beendet. Vielleicht wollte der Kanzler der Wiedervereinigung auch eine kleine Wiedergutmachung. Jedenfalls besorgte er ihm ein Praktikum bei Radio Bremen.
Nun war Shiyoo ausgerechnet seinem Werder Bremen ganz nah. Er sah Spiele, interviewte die Mannschaft, lernte als Journalist viel dazu. Nach 15 Monaten musste er zurück nach Namibia. Dort arbeitete er erfolgreich als Sportredakteur, kämpfte gegen Rassismus im Sport. Er hatte sich mit Namibia etwas versöhnt. Dann lernte er seine Frau Marion kennen, eine Hamelnerin, die für einen Reiseveranstalter in Namibia arbeitete. 2007 zogen sie ins Weserbergland, wo sie mit „Afrika à la Carte“ eine Agentur für Reisen ins südliche Afrika gründeten und er als Online-Redakteur arbeitet. In seiner Freizeit ist er Mittelfeldspieler beim TSV Groß Berkel. „Bei den alten Herren“, sagt er und lacht. Nun ist er nicht mehr „Duitser“. Nun nennen ihn alle nur Shiyoo. Hautfarbe egal.
Heute weiß er: Er ist ein Wanderer zwischen zwei Welten. Und wo ist seine Heimat? Er zitiert Herbert Grönemeyer: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.“ Sein Gefühl ist jetzt, 25 Jahre nach der großen Wende seines Lebens: glücklich, sesshaft, angekommen.