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Jugendrichterin aus Berlin: Der mysteriöse Selbstmord der Kirsten Heisig

Jugendrichterin aus Berlin

Der mysteriöse Selbstmord der Kirsten Heisig

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    Berliner Jugendrichterin tötet sich selbst
    Berliner Jugendrichterin tötet sich selbst Foto: DPA

    Sie war eine Kämpferin. Seit Jahren hatte sie sich im Berliner Problembezirk Neukölln für eine konsequentere Bestrafung von Jugendkriminalität eingesetzt. Im September sollte ihr Buch erscheinen. Sie hat ihm den kämpferischen Titel "Das Ende der Geduld" gegeben. Vergangene Woche fuhr die Jugendrichterin Kirsten Heisig mit ihrem silbernen Mazda in den Tegeler Forst im Norden der Hauptstadt und erhängte sich an den Ästen einer alten Buche.

    Der Bestürzung über den Tod der bekanntesten Jugendrichterin Deutschlands folgen jetzt die Fragen nach den Gründen ihres Freitods. Wurde die 48-Jährige Opfer ihres eigenen Erfolgs? Ertrug sie den Druck nicht mehr? Oder war die geschiedene Mutter zweier Töchter trotz aller Bekanntheit einsam und verzweifelt? Sind die Gründe für ihren Selbstmord im Beruflichen oder im Privaten zu suchen?

    "Richterin Gnadenlos" hieß Kirsten Heisig in den Boulevardmedien. Dort geht es darum, ein möglichst einfaches, schrilles Etikett zu finden. Der Hannoveraner Erziehungswissenschaftler und Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann, der Heisig gut kannte, schilt: Solche eiligen Kategorisierungen hätten etwas von "mangelnder Ehrfurcht vor der Toten". Sie sei keine Hardlinerin gewesen. "Sie war eine Zweiflerin."

    Was soll das bedeuten bei einer Juristin, die für ihre harten, vor allem schnellen Urteile gegen jugendliche Straftäter bekannt geworden ist? Auf die sogar der Begriff des "Neuköllner Modells" zurückgeht? Eine schnelle Bestrafung ist Kernstück dieses Modells. Einfache Verfahren kommen idealerweise innerhalb von drei bis vier Wochen vor Gericht. Sie könne ja auch nicht drei Wochen später Fernsehverbot erteilen, wenn ihre Töchter ihre Zimmer nicht aufgeräumt haben, sagte Heisig einmal. Außerdem werden die Fälle anders eingeteilt: Die Akten von jungen Kriminellen bleiben in der Hand eines Richters, damit der den kompletten Überblick hat. Nach dem Neuköllner Modell können vier Wochen Arrest verhängt, Täter-Opfer-Gespräche oder Schulbesuch angeordnet werden. Schulzwang - keine Strafe, bei der Neuköllner Jungs schlottern. Kontrolliert ja keiner. Kirsten Heisig schon. Sie gab dem Lehrer ihre Telefonnummer. Und bei alldem verlor die Richterin nicht aus den Augen, dass es im Jugendstrafrecht nicht in erster Linie um Bestrafung, sondern um erzieherische Wirkung geht.

    Die zerbrechlich wirkende Frau mit dem madonnenhaften Gesicht wollte nach 15 Jahren im Job nicht mehr so weitermachen wie bisher. Sie merkte, dass sich etwas verändert hatte: Mehr Gewaltdelikte, heftigere Aggressionen, reine Lust am Zuschlagen. Ein ratloser Staat. Strafen, die nichts ausrichten. Gruppen, die den Staat und das Rechtssystem nicht als Autorität anerkennen.

    Kirsten Heisig sagte einmal in einem Interview, sie habe als Fan des "Multi-Kulti" begonnen. Doch die Erfahrungen in Neukölln, dem Zentrallager der Hauptstadt für sozialen Sprengstoff, ließen sie zur Realistin werden. 70 Prozent der Kinder leben in Armut, fast jeder zweite Bewohner hat ausländische Wurzeln. Gut jeder zweite Migrant ist arbeitslos. In Neukölln werden 40 Prozent mehr Straftaten begangen als im Berliner Durchschnitt.

    Was kann man da als Jugendrichterin machen? Kirsten Heisig schaute sich genau um. Und dann sprach sie die Probleme offen an. Alle ihre Delinquenten sind Schulschwänzer, vielen arabischstämmigen Familien spricht sie schlicht den Willen zur Integration ab. Wer sich so äußert, erntet Kritik.

    Von Politikern, die dies einer Richterin als Kompetenzüberschreitung auslegen; von Sozialpädagogen, die ihr beinahe schon Rassismus unterstellen; von Kollegen, die ihr Profilierungssucht vorwerfen. Vertrauten erzählte Frau Heisig, dass sie am Mittagstisch oft allein saß. So ist das eben, wenn man andere im gewohnten Trott stört.

    Dass sich die Richterin wegen solcher Widerstände umgebracht hat, schließt der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky aus. Buschkowsky, der ebenfalls für seinen konsequenten Kurs gegen mangelnde Integrationsbereitschaft und Bildungsverweigerung bekannt geworden ist, sagt: "Sie war eine Fighterin, die so etwas sportlich sah." Vor kurzem habe sie ihm einige Stellen aus ihrem Buch vorgelesen. Sie werde damit wieder einigen Leuten auf die Füße treten, habe sie gesagt und sich "diebisch darüber gefreut".

    Kirsten Heisig galt als exzellent informierte Richterin. Sie ging nach einem Tag voller Prozesse zu Nachbarschaftsvereinen, öffentlichen Diskussionen und schwierigen Familien. "Sie war morgens Richterin und abends Sozialarbeiterin", sagt Heinz Buschkowsky.

    Der harte Kurs gegen kriminelle Jugendliche war das Ergebnis langjähriger Erfahrung und Reflektion. Heisig handelte so, weil sie davon überzeugt war, dass es nicht anders geht. Ihren Kurs verfolgte sie unnachgiebig, aber freundlich. Nichts dürfte sie weniger geplant haben als ihre plötzliche Bekanntheit, sagen Bekannte. Sie war keine Frau für die große Mission. Sie war ein politischer Mensch, den die Gesellschaft, in der sie lebte, nicht kalt ließ.

    Doch trotz ihrer vielen öffentlichen Auftritte, zuletzt bei einer Aufzeichnung von Peter Hahnes neuem Sonntags-Talk, ist nicht viel über die Privatfrau Kirsten Heisig bekannt. Es heißt, sie habe viel geraucht, viel gelacht, deutlich zu viel gearbeitet und darüber manchmal vergessen, dass zu ihrem Leben ein Mann und zwei Töchter gehören. Zuletzt lebte die 48-Jährige allein. Von Depressionen ist die Rede. Sie fühle sich oft als "Exotin" wahrgenommen, hat sie kürzlich gesagt.

    Kirsten Heisig wurde 1961 in Krefeld geboren, studierte an der Freien Universität in Berlin Rechtswissenschaften. Seit 1993 war sie Jugendrichterin. Der Kampf gegen Jugendgewalt wird die Aufgabe ihres Lebens.

    Am Montag vergangener Woche brachte die sportliche Frau mit der hellen Stimme ihren Arbeitstag zu Ende. Dann fuhr sie zu ihrem Onkel. Er hat sie wohl als Letzter lebend gesehen. Am selben Tag hatte sie letzte Textkorrekturen für ihr Buch übermittelt, berichtet die Sprecherin des Herder-Verlags, Christine Weis. Fast scheint es so, als wollte sie ihr Werk als eine Art Vermächtnis fertigstellen. Der Herder-Verlag hat den Erscheinungstermin vorgezogen. Das Buch soll noch im Juli herauskommen.

    Am Mittwoch wird Kirsten Heisigs Auto gefunden. Hunderte Polizisten suchen nach ihr. Am Samstagnachmittag wird ihre Leiche entdeckt. Es ist nur logisch, dass die Mordkommission eingeschaltet wird. Zu oft hatte sich die Richterin mit Jungkriminellen angelegt. Der Reflex, dass einer sich rächen wollte, liegt nahe. Doch bereits zweieinhalb Stunden nach dem Auffinden der Leiche verkündet die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue, dass es Suizid war.

    Sie will den Spekulationen rasch ein Ende setzen. Doch der Termin ist nicht glücklich: Berlin und Deutschland liegen gerade im Freudentaumel, weil die Fußball-Nationalelf Argentinien unerwartet deutlich geschlagen hat. "Aber vielleicht hätte der fußballbegeisterten Richterin ein solches Ende sogar gefallen", sagt Neuköllns Bürgermeister Buschkowsky. Der Sozialdemokrat ist in tiefer Trauer über den Tod der Richterin. "Wahrscheinlich waren es doch die privaten Probleme, die sie zerrieben haben", mutmaßt er.

    Letztlich wird man es nie erfahren. Einen Abschiedsbrief gibt es bisher nicht. Nur angeblich eine ominöse SMS an ihre Tochter: " Das ist alles zu viel für mich", soll Kirsten Heisig geschrieben haben.

    Ist es die Nachricht einer sehr mutigen Richterin, die zu viel Unruhe ins Justizsystem gebracht hat und der am Ende die Kraft genommen war, ihren Kampf fortzusetzen? Dann wäre der Tod Kirsten Heisigs hochpolitisch und man müsste noch viel darüber diskutieren, warum sie sich mit ihren neuen Wegen so viele Feinde gemacht hat - obwohl doch allen klar ist, dass sich etwas tun muss im Umgang mit Jugendkriminalität.

    Oder ist es die Nachricht einer sehr ehrgeizigen Richterin, die am Höhepunkt ihres beruflichen Erfolgs merken musste, dass sie ihr Privatleben nicht mehr in den Griff bekam? Dann ginge uns ihr selbst gewählter Tod nichts mehr an. Von Holger Sabinsky

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