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Coronavirus: Indien wird der neue Corona-Hotspot der Welt

Coronavirus

Indien wird der neue Corona-Hotspot der Welt

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    Das Coronavirus verbreitete sich erst in den Metropolen – wie hier in Mumbai. Dort, etwa in den Slums, versuchen Mitarbeiter des Gesundheitswesens die Lage in den Griff zu bekommen.
    Das Coronavirus verbreitete sich erst in den Metropolen – wie hier in Mumbai. Dort, etwa in den Slums, versuchen Mitarbeiter des Gesundheitswesens die Lage in den Griff zu bekommen. Foto: Rafiq Maqbool, dpa

    „Ich bin ein wenig besorgt wegen Corona, aber ich habe keine andere Option“, sagt Guarav Chautala. Der 25-Jährige, der in der Innenstadt der indischen Hauptstadt Neu-Delhi lebt, fährt gerade mit der Metro zu seinem Arbeitsplatz in der Nähe des Flughafens. Ein Service-Center eines Mobiltelefon-Anbieters. Fast 170 Tage waren die U-Bahn-Linien in Indien geschlossen, um die Verbreitung des Coronavirus zu stoppen. Nun haben sie ihren Betrieb wieder aufgenommen, auch Restaurants, Bars und Clubs dürfen öffnen. Ein positives Zeichen für eine Normalisierung des Alltagslebens ist das jedoch nur auf den ersten Blick.

    Denn die Zahl der Corona-Fälle steigt rasant. Am Montag meldete Indien 92.071 Neuinfektionen an einem Tag. Mit mehr als 4,8 Millionen Fällen ist das Land inzwischen das nach den USA am schlimmsten von der Pandemie betroffene weltweit. Und Indiens Hauptstadt ist nur einer von vielen Hotspots.

    Die Regierung will durch Lockerungen der Corona-Regeln die Wirtschaft ankurbeln

    Indiens Regierung aber lockert derzeit Corona-Beschränkungen, vor allem, um die Wirtschaft anzukurbeln. Und sie beschwichtigt. Am Montag behauptete Gesundheitsminister Harsh Vardhan sogar, Indien habe eine der niedrigsten Infektionsraten der Welt. Eine Aussage, die zu dem passt, was die Regierung ohnehin gerne betont: Dass die Zahl der Corona-Toten relativ niedrig sei mit bislang 79.722 Menschen – knapp 80.000 Corona-Tote bei insgesamt knapp 1,4 Milliarden Einwohnern.

    Doch inwiefern eine Zahl wie diese die Realität widerspiegelt, ist fraglich. Indiens Sterbestatistik ist schon außerhalb von Pandemie-Zeiten wenig zuverlässig: Nur etwa 85 Prozent aller Todesfälle werden überhaupt registriert, und nur bei etwa 22 Prozent davon wird eine Todesursache offiziell festgestellt. Was ein großes Problem darstellt, wird der Kampf gegen Corona damit auf höchst wackliger Faktenbasis geführt. So sieht und sagt es auch Mediziner Hemant Shewade. „In Delhi“, sagt er, „wird bei nur 63 Prozent der Toten ein Totenschein ausgestellt. Und das ist die Hauptstadt.“ Auf dem Land sehe die Situation noch schlechter aus.

    Und jenseits der Metropolen ist das Virus offenbar auch weit verbreitet, das zeigen Antikörper-Studien. Nach Schätzungen der obersten medizinischen Behörde, „Indian Council of Medical Research“ heißt sie, hatte Indien im Mai bereits 6,4 Millionen Corona-Fälle. Damals hätte 0,73 Prozent der erwachsenen Bevölkerung die Viruserkrankung durchgemacht. Im Mai, als Indien offiziell erst 35.000 Fälle und etwas mehr als 1000 Corona-Tote registriert hatte, kamen auf jeden bestätigten Fall zwischen 82 und 130 Corona-Erkrankungen, die nicht festgestellt wurden. Und zu diesem Zeitpunkt, so erklären Forscher, breitete sich das Virus bereits in den ländlichen Gebieten Indiens aus, die kaum über eine nennenswerte Gesundheitsversorgung verfügen.

    Die Slums sind in Indien besonders betroffen

    Besonders betroffen sind Indiens Armensiedlungen: In den Slums der Finanzmetropole Mumbai wiesen beispielsweise 57 Prozent der Untersuchten Antikörper gegen das Coronavirus auf – so das erschreckende Ergebnis einer Studie.

    Einer, der derartige Zahlen einschätzen kann, ist Bundesentwicklungsminister Gerd Müller von der CSU. Erst im Februar war er nach Bangladesch und Indien gereist. Er besuchte eine Teeplantage, einen Marmorsteinbruch, einen Reisanbaubetrieb. Indien sei „unser globaler Partner – entscheidend für Stabilität, den globalen Klimaschutz und die Welternährung“, ließ er damals wissen. Vor etwas mehr als einer Woche kündigte Müller dann an, dass die Bundesregierung Indien mit 330.000 Corona-Testkits und 600.000 Schutzausrüstungen für medizinisches Personal unterstützen werde. Zusätzlich stelle das Entwicklungsministerium kurzfristige Kredite im Umfang von 460 Millionen Euro bereit – für Nahrungsmittel und für Überbrückungshilfen an Menschen, die ihren Job verloren haben. „Das ist weltweit eine der größten Corona-Unterstützungsmaßnahmen“, betonte Müller.

    Auf dem Transparent steht: „Machen Sie hier einen kostenlosen Corona-Test und lassen Sie sich sofort Bericht erstatten"
    Auf dem Transparent steht: „Machen Sie hier einen kostenlosen Corona-Test und lassen Sie sich sofort Bericht erstatten" Foto: Ajit Solanki, dpa

    Experten hatten die gesundheitliche wie die wirtschaftliche Katastrophe kommen sehen, die die Corona-Krise für Indien bedeutet. Sie sparten nicht mit drastischen Worten. Joachim Nagel etwa, Mitglied des Vorstands der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Er sprach von schwerwiegenden ökonomischen und sozialen Folgen, von massenhaften Arbeitsplatzverlusten und extremer Armut. Es sei in diesen Krisenzeiten von „zentraler Bedeutung, die bemerkenswerten Wachstumsschritte, die Indien in den letzten Jahren geleistet hat, aufrechtzuerhalten und die indische Regierung beim Ausbau eines krisenfesten, sozialen Sicherungsnetzes zu unterstützen“. Von April bis Juni ist das Bruttoinlandsprodukt Indiens um 23,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum geschrumpft.

    Besonders erstaunlich ist der Vergleich mit Pakistan

    Indien als Corona-Hotspot der Welt – erst allmählich und mit steigenden Infizierten-Zahlen rückt das in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Und damit auch die Frage, warum Nachbarländer wie Sri Lanka, Nepal, Bangladesch oder Pakistan die Pandemie weit besser unter Kontrolle haben. Verglichen mit Bangladesch hat Indien 1,6 Mal mehr Fälle, verglichen mit Pakistan 2,3 Mal so viele – bezogen auf die Infektionen pro eine Million Einwohner. Am größten ist der Unterschied zu Sri Lanka. Indien verzeichnet 21,5 Mal mehr Corona-Fälle als der Inselstaat.

    Besonders erstaunlich ist der Vergleich mit Pakistan, der ärmere Nachbar, mit ähnlicher Bevölkerungsstruktur und ähnlichen Problemen: Armut, Slums, eine schlechte medizinische Versorgung und nur wenige Ärzte und Kliniken in ländlichen Gebieten.

    Anders als Indien verzichtete Pakistan auf einen rigiden Lockdown. Während Indien im März einigermaßen überraschend einen extrem strikten verhängte, erklärte Pakistans Premierminister Imran Khan: Ein kompletter Lockdown sei in einem Land nicht möglich, in dem ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebe.

    Unter strengen Hygienevorschriften will Indien wieder einen Besuch im Taj Mahal ermöglichen.
    Unter strengen Hygienevorschriften will Indien wieder einen Besuch im Taj Mahal ermöglichen. Foto: Pawan Sharma/PTI, dpa

    In Indien hatte der Lockdown unübersehbare Folgen. Ende März machten sich Millionen Wanderarbeiter, die plötzlich ohne Arbeit und auch ohne ausreichend Essen auszukommen hatten, in ihre Heimatdörfer auf. Notgedrungen zu Fuß, denn der Bus- und Bahnverkehr war eingestellt worden.

    „Ohne Arbeit blieb Indiens Arbeitern nichts anderes übrig, als zurück in ihre Dörfer zu laufen“, erklärt der pakistanische Ökonom Anjum Atlaf. „Aber in Pakistan war der Lockdown so lasch, dass Arbeiter immer noch Arbeit finden konnten. Die Massenwanderung zurück in die Dörfer blieb aus.“

    Der indische Wirtschaftswissenschaftler Kaushik Basu vertritt eine ähnliche Theorie, die nur beim ersten Hören widersprüchlich klingt. Indiens harscher Lockdown sei der Grund gewesen, meint Basu, dass das Coronavirus sich so rasch verbreiten habe können. „Wenn hunderte Menschen auf engem Raum zusammen sind und einer den anderen ansteckt und diese Menschen dann hunderte Kilometer reisen – das hat die Pandemie schlimmer gemacht, als sie hätte sein müssen.“ Der strikte Lockdown – einer der härtesten weltweit – habe zwar die Infektionsrate verlangsamen können, die Infektionsketten durchbrechen habe er nicht können. Dieser Ansicht sind inzwischen viele Forscher in Indien.

    Die Kurve der Infektionszahlen steigt seit sechs Monaten steil an

    Das mag sich im Rückblick feststellen lassen. Eine Antwort auf die Frage, wie es weitergeht und wann die Pandemie gestoppt werden kann, ist das natürlich nicht. Immer wieder und immer stärker fragen Inder: Wann wird denn nun der Höhepunkt erreicht sein? Die Kurve der Infektionsraten kennt seit sechs Monaten nur eine Tendenz – steil steigend. Ein Plateau, ein Abflachen, ist nicht in Sicht.

    Experten erklären das mit Indiens hoher Einwohnerzahl. Und mit den unterschiedlichen Zeitschienen der Infektion. Das Virus verbreitete sich von den Städten aus in die ländlichen Regionen. Während Infektionszahlen in einigen Landesteilen wieder fallen, steigen sie in anderen rapide an. Das Virus scheint überall zu sein, selbst auf den abgelegenen Andamanen im Indischen Ozean. Auch auf der Inselkette, die zu Indien gehört, haben sich Ureinwohner infiziert.

    Das Virus breitet sich im Land unterschiedlich schnell aus, auch in ländlichen Regionen. Hier zu sehen ist der Fluss Hugli in Kolkata.
    Das Virus breitet sich im Land unterschiedlich schnell aus, auch in ländlichen Regionen. Hier zu sehen ist der Fluss Hugli in Kolkata. Foto: Bikas Das/AP, dpa

    Wirtschaftswissenschaftler Riju M John verweist auf die USA. Auch dort habe Corona zunächst die dicht besiedelten Städte wie New York getroffen und sich danach in weiteren Wellen in den ländlicheren Regionen ausgebreitet. Doch anders als in den USA sind auch Indiens ländliche Gebiete dicht besiedelt, etwa 70 Prozent der Bevölkerung leben in ihnen. Riju M John ist daher skeptisch. Er bezweifele, dass Appelle zum Abstandhalten und Maskentragen diese Gebiete erreicht hätten. „Das Ende der Epidemie ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten“, sagt er.

    Und so bleibt vielen Indern nur die Hoffnung – die Hoffnung auf einen Impfstoff etwa. Gesundheitsminister Harsh Vardhan hat bereits verkündet, er wollte sich als Erster impfen lassen, „falls die Leute kein Vertrauen zur neuen Impfung haben“. Doch vor März 2021 erwarten selbst Optimisten keine Massenimpfungen gegen Corona. Für den 25-jährigen Guarav Chautala aus Neu-Delhi sind diese Gedankenspiele weit weg, jetzt in der Metro auf dem Weg zur Arbeit. Er ist froh, dass sie ihren Betrieb wieder aufgenommen hat, das schon. Normalität? Was ist schon normal in diesen Zeiten in Indien? (mit wida)

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