Zu einer richtigen türkischen Hochzeit gehören viele Menschen. Verwandte und Freunde reisen also aus dem ganzen Land an, es wird gegessen, gelacht und getanzt. Die Braut bekommt dabei von den Gästen traditionell Goldmünzen an ihr Kleid geheftet. Wenn die Frischvermählten aus Großfamilien stammen, werden bei den Feierlichkeiten häufig gleich mehrere Schafe geschlachtet, Gold wird kiloweise verschenkt. Monatelang jedoch war all das in der Türkei verboten – wegen der Corona-Pandemie.
Erst seit Juli darf dort wieder geheiratet werden. Doch die Behörden prüfen bereits ein erneutes Verbot: Hochzeitsfeiern werden inzwischen wieder als großes Problem wahrgenommen – sie sind zunehmend Corona-Hotspots.
Nach der Lockerung der Veranstaltungsverbote und der Ausgangssperren im Juni und Juli hatte die Regierung einen gewissen Anstieg der Infektionsfälle einkalkuliert. Seit ein paar Wochen jedoch steigen die Zahlen so stark, dass Experten schon warnen, das Virus sei außer Kontrolle geraten. Laut den täglichen Mitteilungen von Gesundheitsminister Fahrettin Koca registrieren die Behörden derzeit jeden Tag rund 1500 neue Fälle und mehr als 40 Tote, allerdings lediglich rund 1000 Genesungen. Insgesamt sind rund 270.000 Menschen in der Türkei erkrankt, 7,5 Prozent davon schwer. Rund 6400 Menschen sind an der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben.
Kommt ein erneutes komplettes Verbot von Hochzeitsfeiern?
Ärzte und Ärztekammer in einigen Landesteilen berichten von überfüllten Intensivstationen und Opferzahlen, die weit über die amtlichen Angaben der Regierung in Ankara hinausgehen. Der Infektionsspezialist Mehmet Ceyhan sagte dem Fernsehsender Habertürk, in vielen Ländern liege die tatsächliche Zahl der Erkrankungen zehn Mal höher als offiziell angegeben – in der Türkei liege sie wahrscheinlich 20 Mal so hoch. Das Land müsse es schaffen, die Zahl der täglichen Neuinfektionen unter die Zahl der Genesenen zu drücken.
Weil die Türkei davon weit entfernt ist, lässt Minister Koca eine Reihe neuer Verbote prüfen. Dabei stehen die Hochzeitsfeiern an oberster Stelle. Nicht ohne Grund. Bei einer Hochzeit in Anatolien infizierten sich kürzlich 32 Menschen mit Corona: Deren Gäste saßen auf dem Weg zur Feier stundenlang zusammen in Autos, griffen beim Schminken in einen gemeinsamen Tiegel und ignorierten die Abstandsregeln. „Wir können den Kampf nur gewinnen, wenn alle mitmachen“, schrieb Fahrettin Koca auf Twitter.
In Istanbul, der mit 16 Millionen Menschen größten Stadt der Türkei, sind Hochzeits-, Verlobungs- und Beschneidungsfeiern seit Wochenbeginn nur noch mit großen Einschränkungen erlaubt. Entfernte Verwandte über 65 Jahre und Kinder unter 15 Jahren dürfen nicht mehr mitfeiern, Gäste dürfen bloß mit Wasser bewirtet werden, tanzen ist verboten. In anderen türkischen Provinzen dürfen Hochzeitsfeiern nicht mehr länger als eine Stunde dauern. Ein erneutes, komplettes Verbot würde viele Paare schwer treffen: Sie brauchen die Goldgeschenke, um einen Hausstand gründen zu können.
Auch die verstärkte Ankunft von Touristen, etwa in Antalya, weckt Befürchtungen
Die türkische Hochzeitsbranche reagiert bestürzt auf die gegenwärtige Situation. Veranstalter von Hochzeitsfeiern zum Beispiel befürchten zum zweiten Mal in diesem Jahr gravierende Einnahmeeinbußen. Bei einer Protestkundgebung im nordwesttürkischen Bursa, an der Frauen in Brautkleidern teilnahmen, beklagten Branchenvertreter vor kurzem, schuld am Anstieg der Infektionszahlen seien nicht die organisierten Feiern, sondern „unverantwortliche und unregulierte Straßenhochzeiten“.
Umstritten sind auch andere Veranstaltungen. Regierungskritiker beklagten, bei einem Besuch von Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Schwarzmeerküste hätten sich viele Menschen vor dem Lautsprecherwagen des Staatschefs gedrängt, ohne dass irgendjemand auf die Abstandsregeln geachtet habe.
Die verstärkte Ankunft russischer Touristen an türkischen Stränden seit Anfang August weckt zudem ernst zu nehmende Befürchtungen: Die Urlauber würden trotz der Existenz eines Hygienekonzeptes nicht auf Corona getestet, kritisierte Nursel Sahin, die Vorsitzende der Ärztekammer in der Ferienprovinz Antalya. In der Folge steige die Zahl der Corona-Infektionen bei Hotelmitarbeitern an. In Antalya gebe es derzeit mehr Infektionen als am Höhepunkt der ersten Krankheitswelle im März, sagte sie.
Lesen Sie auch:
- Merkel würde wieder Hunderttausende Flüchtlinge aufnehmen
- Wenn Flüchtlingen trotz Arbeitsplatz plötzlich die Abschiebung droht
- Reisewarnung für mehr als 160 Länder verlängert
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.