Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

Corona-Krise: Verstärkt Corona die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft?

Corona-Krise

Verstärkt Corona die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft?

    • |
    Erste Trends aus den Daten des Vorgangsverwaltungssystems der Polizei zeigen, dass Gewalttaten in der Corona-Pandemie abgenommen haben sollen.
    Erste Trends aus den Daten des Vorgangsverwaltungssystems der Polizei zeigen, dass Gewalttaten in der Corona-Pandemie abgenommen haben sollen. Foto: Maurizio Gambarini, dpa

    Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie haben für viele Veränderungen gesorgt. Schon zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen war die Sorge laut geworden, dass das Aggressionspotenzial in der Gesellschaft durch die Einschränkungen steigen könnte. Neben häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Kinder soll auch die Zahl der Körperverletzungen und Angriffe auf Polizisten zugenommen haben, wie verschiedene Studien und Umfragen berichteten, darunter eine Abfrage der TU München. Zuletzt hatten auch die Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt diesen Eindruck verstärkt.

    Doch die aktuellen Zahlen der bayerischen Polizei sehen anders aus: Mehr Straftaten als im Vorjahr wurden in der Zeit seit dem Lockdown nicht registriert. Eine Kriminalstatistik ist für das Jahr 2020 zwar noch nicht verfügbar, teilte das bayerisch Innenministerium mit, dafür lasse das Vorgangsverwaltungssystem der Polizei bereits einen ersten Trend erkennen. Bei den Zahlen handle es sich allerdings um einen dynamischen Datenbestand, der nur den aktuellen Erfassungsstand zeige und sich durch laufende Ermittlungen kontinuierlich verändern könne. Doch wie lassen sich die Einschätzungen über zugenommene Gewalt im Alltag erklären, wo es diese anscheinend bislang gar nicht gegeben hat?

    Dunkelziffer: Viele Fälle häuslicher Gewalt bleiben ungemeldet

    Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe hat dafür eine Erklärung: Speziell im Bereich der häuslichen Gewalt gibt es oft eine hohe Dunkelziffer. Kontaktbeschränkungen, Home-Office, Homeschooling und häusliche Quarantäne in der Corona-Krise haben neue Herausforderungen mit sich gebracht: "Zwar war die Inanspruchnahme der Beratungsstellen an vielen Orten zurückgegangen, das ist aber nicht verwunderlich, weil Betroffene weniger Gelegenheit hatten sich unbemerkt Hilfe zu suchen", sagt sie. Telefonische Hilfeangebote, wie beispielsweise das bundesweite Hilfetelefon, vermelde dagegen seit Beginn der Corona-Beschränkungen einen leichten Anstieg der Anfragen. Generell habe sich die Nachfrage in der Beratungsstelle inzwischen aber wieder auf dem Level vor der Pandemie eingependelt.

    Auch unter normalen Umständen, so die Sprecherin, gebe es eine relativ hohe Dunkelziffer im Bereich der häuslichen Gewalt. Vor einigen Jahren habe eine repräsentative Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ergeben, dass die Mehrheit der Betroffenen nicht über erlebte Gewalt spreche und weder bei der Polizei noch bei Beratungsstellen Hilfe suche. Nur jeder zehnte Übergriff durch den Partner werde gemeldet. "Betroffene erzählen uns in den Beratungsstellen immer wieder, dass die Polizei nicht verständigt ist", sagt sie.

    Gewalt gegen Kinder: Meldungsinstanzen fallen in Corona-Zeiten weg 

    Dass Betroffene sich oftmals keine Hilfe suchen, weiß auch Heinz Hilgers, Präsident vom deutschen Kinderschutzbund. In der Corona-Pandemie hat er ähnliche Erfahrungen gemacht: "Zu Beginn der Krise gab es bei den Jugendämtern weniger Meldungen, seit Ende Mai hat sich das meiner Meinung nach geändert." Das habe vor allem an den fehlenden Kontakten gelegen: Kindertagestätten und Schulen waren geschlossen, die Vorsorgeuntersuchungen bei Kinderärzten waren ausgefallen. "Damit sind die Hauptabsender, die eine Gefährdung des Kindeswohls melden könnten, ausgefallen", sagt er.

    Kinder seien in der Corona-Krise bislang nicht im Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gestanden. Die Öffnungspolitik der Bundesländer kritisiert Hilgers: "Ich habe das Gefühl, dass die Kinderrechte in unserem Land nach wie vor keine so große Rolle spielen wie beispielsweise die Gewerbefreiheit." Das zeige der Umgang mit dem Corona-Ausbruch beim Schlachtereibetrieb in Tönnies. Im Landkreis Güstersloh waren in einem ersten Schritt sofort Schulen und Kitas geschlossen worden, während Fitnessstudios, Friseursalons und Geschäfte weiterhin offen bleiben durften.

    Dass die Anzahl der Kindeswohlgefährdungen in der Corona-Pandemie bislang konstant geblieben sind, zeigt auch die Erfahrung von Joachim Herz, der das Amt für Kinder, Jugend und Familie in Augsburg leitet: "Aktuell können wir nur spekulieren, ob es nach den Lockerungen ein Anstieg geben wird." Angepasst an die Bedingungen des Infektionsschutzes sei es den Mitarbeitern gelungen die Familien in Augsburg auch während des Lockdowns zu betreuen. "Über den durchgängigen Kontakt konnten wir viel Eskalationspotenzial abfangen", erklärt er. Einige Eltern hätten sich während der strengen Kontaktbeschränkungen auch selbstständig beim Amt gemeldet, um sich über konkrete Hilfsangebote zu informieren.

    Um auch in einer Quarantänesituation reagieren zu können, hat das Amt ein Schutzkonzept vorbereitet. Eine Gruppe von Mitarbeitenden sei beispielsweise mit vollständiger Schutzausrüstung und fachlicher Einweisung auf einen Einsatz vor Ort in Quarantänesituationen vorbereitet worden. Freie Träger der Jugendhilfe hatten in ihren Einrichtungen Plätze für eine solche Situation freigehalten. Herz sagt: "Wir hatten alles organisiert, mussten das Angebot aber nicht in Anspruch nehmen." Für Täter aus dem familiären Umfeld eines Kindes oder Jugendlichen hat das Jugendamt mit der Wohnungsnothilfe der Stadt ebenfalls eine Vereinbarung für eine isolierte Unterbringung im Krisenfall getroffen.

    Polizisten müssen in der Corona-Krise als Prellbock herhalten

    Auch im öffentlichen Bereich verzeichnet die bayerische Polizei nach Angaben des Innenministeriums seit Beginn der Corona-Krise keine zusätzlichen Körperverletzungsdelikten. Grund dafür könnten unter anderem geschlossene Bars und Discotheken sein, teilte ein Sprecher mit. Oftmals würden die Straftaten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in diesem Bereich begangen. Durch Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, geschlossene Einrichtungen, sowie der damit weggefallenen Möglichkeit Alkohol in der Öffentlichkeit zu konsumieren, waren die Vorfälle in der Pandemie zurückgegangen.

    Abgesagte Großveranstaltungen sieht auch Martin Rettenberger von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, einer Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für kriminologisch-forensische Fragen des Bundes und der Länder,als mögliche Ursache für den Rückgang der registrierten Delikte: "Im öffentlichen Raum erwarten wir für dieses Jahr einen Rückgang der Körperverletzungen, da es die typischen Hotspots dafür in der Corona-Pandemie nicht gibt."

    Ob das Aggressionspotential in der Gesellschaft durch die Krise tatsächlich gestiegen ist, kann der Experte nicht mit Sicherheit sagen. "Ereignisse wie in Stuttgart sind bislang die absolute Ausnahme und vermutlich auch auf andere Gründe abseits von Corona zurückzuführen", betont er. Egal ob bei der Arbeit, der Freizeit oder im Bildungsbereich, Einschränkungen durch die Pandemie habe jeder von uns in den vergangenen Wochen erfahren. Derart öffentlich und unmittelbar persönlich wirksame Gesetze wie es sie aktuell in kurz aufeinanderfolgender Zeit gab, hatte es in dieser Form in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. Dass die dadurch entstandenen Einschränkungen und Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung auch zu einer aggressiveren Grundstimmung führen können, will Rettenberger deshalb nicht ausschließen.

    Oft, so der Kriminologe, müsse die Polizei als vermeintlicher Gegner und als Prellbock herhalten. Zwar würden die Beamten nur für die Einhaltung der Regeln sorgen und seien nicht unmittelbar für die Gesetzgebung verantwortlich, der Frust vieler Menschen entlade sich aber dennoch direkt bei ihnen. Zu Beginn der Pandemie, vermutet Rettenberger, sei die Akzeptanz bei der Bevölkerung durch Schreckensbilder aus dem Ausland noch größer gewesen. Dennoch gibt er zu bedenken, dass Diskussionen zu einer funktionierenden Demokratie dazugehören: "In einer solchen Situation ist es naheliegend, dass Konflikte aufkommen - so etwas lässt sich nicht gänzlich verhindern."

    Hier finden Opfer häuslicher Gewalt Hilfe

    Für Opfer häuslicher Gewalt gibt es ein engmaschiges Netz von Hilfsangeboten – vom Notruftelefon über Zufluchtsorte bis zur Unterstützung speziell für Kinder. Hier die wichtigsten Angebote im Überblick.

    Polizei: Im Notfall sollten Opfer oder Beobachter von häuslicher Gewalt die 110 wählen, rät die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes. Die Polizei kann Täter zum Beispiel aus der Wohnung verweisen oder in Gewahrsam nehmen und Schutzmaßnahmen für das Opfer anordnen. An jeder Polizeidienststelle gibt es einen Schwerpunktsachbearbeiter für häusliche Gewalt. Allerdings sind die Beamten dem Legalitätsprinzip verpflichtet, sie müssen Gewalttaten zur Anzeige bringen. Für den Fall, dass die Frau keine Anzeige erstatten möchte, verweisen die Beamten auf Beratungsstellen mit Schweigepflicht.

    Hilfetelefon: Telefonische Hilfe für Betroffene gibt es rund um die Uhr, kostenlos und vertraulich beim bundesweiten Hilfetelefon unter der Rufnummer 08000 116 016. Verantwortlich dafür ist das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, die Beraterinnen beherrschen insgesamt 17 Sprachen. Die Experten beraten auch unter www.hilfetelefon.de. Speziell für Kinder gibt es die Nummer gegen Kummer: 0800/1110333.

    Frauenhäuser: Hilfe und Zuflucht finden Opfer von häuslicher Gewalt auch bei Ehe- und Familienberatungsstellen, bei Rechtsberatungsstellen, Opferhilfeorganisationen oder in den 40 Frauenhäusern. In Schwaben gibt es sechs davon, in Augsburg (Tel. 0821/650874010), Kaufbeuren (08341/ 16616), Kempten (0831/18018), Memmingen (08331/4644), Neu-Ulm (0731/40988690) und Donauwörth (0906/242300). Allerdings sind viele Frauenhäuser überbelegt.

    Weitere Informationen: Auf der Webseite www.frauen-gegen-gewalt.de gibt es eine Suchmaschine für lokale Hilfsangebote. Weitere Informationen erteilt das bayerische Familienministerium auf seiner Website. dpa/sok

    Lesen Sie dazu auch:

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden