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Breitscheidplatz: Wie Berlin nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt feiert

Breitscheidplatz

Wie Berlin nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt feiert

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    Nun stehen am Eingang zum Weihnachtsmarkt Betonpoller. Sie schirmen auch den Stand von Steven Rabenhorst ab.
    Nun stehen am Eingang zum Weihnachtsmarkt Betonpoller. Sie schirmen auch den Stand von Steven Rabenhorst ab. Foto: Gregor Fischer, dpa

    Wäre Steven Rabenhorst fünf Meter weiter vorne gestanden, wäre er vermutlich tot. Dann würden auf dem Altar der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche statt der zwölf Kerzen 13 brennen, würden am Gedenkaltar davor noch mehr Rosen liegen. Dann würde nun jemand anders in der Holzhütte mit dem Steinofen stehen und Teig kneten. Doch Rabenhorst hatte Glück. Er hat überlebt. Die Bilder des Lastwagens aber, mit dem der islamische Terrorist Anis Amri an seinem Stand vorbeiraste, wird der 19-Jährige wohl sein Leben lang nicht mehr vergessen.

    Rabenhorst hat alles gesehen. Die Toten, die Verletzten, all die geschockten, entsetzten Gesichter. Er hat alles gehört. Den Aufprall, das Schreien, das Klagen. Er habe seine Bude geschlossen und noch ein paar Leuten geholfen, sagt er. Dann stockt er. Der junge Mann will und kann nicht mehr erzählen. Er wendet sich ab.

    Nun, knapp ein Jahr später, ist Rabenhorst wieder am Berliner Breitscheidplatz. Zurück am Ort des Grauens. Zurück in der Hütte, in der er auch letztes Jahr gearbeitet hat, der „Berliner Handbrotbäckerei“. Wie damals trägt er Schürze und Plastikhandschuhe. Wie damals knetet und walzt er Teig, bestreut ihn mit Käsestreifen und Schinkenstücken, faltet ihn zusammen und schiebt ihn in den Ofen. Rabenhorsts Arbeit hat sich nicht geändert. Die Welt um ihn herum schon.

    Breitscheidplatz: Wo der Lastwagen durchbrach, stehen jetzt Betonpoller

    Als der gekaperte Sattelschlepper ungebremst und mit ausgeschalteten Lichtern durch die Budenstraße des Weihnachtsmarktes raste, traf er die Hütte „Zum strammen Max“ mit voller Wucht. Wie durch ein Wunder blieb Betreiber

    Die Bude Max Müller und seiner Frau Katalina ist beim Anschlag zusammengekracht wie ein Kartenhaus.
    Die Bude Max Müller und seiner Frau Katalina ist beim Anschlag zusammengekracht wie ein Kartenhaus. Foto: Paul Zinken, dpa

    Auch Rabenhorsts Stand ist nun besser geschützt. Vor einem Jahr stand gegenüber von seiner Bude nichts. Weder ein Stand noch ein Zaun. Durch diese Lücke preschte der Lastwagen. Jetzt sind dort dicke Poller aufgestellt, teils kaschiert von meterhohen Christbäumen. Rabenhorst zuckt mit den Schultern. „Schwer vorstellbar, dass die einen 40-Tonner aufhalten“, brummt er. „Und gegen Messerstecher helfen sie eh nicht.“

    „Was getan werden konnte, wurde getan“, hat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller zum Auftakt des Weihnachtsmarktes verkündet. Und dann das Offensichtliche zugegeben: „Es kann keine absolute Sicherheit geben.“ Wer kann schon ausschließen, dass nicht doch irgendjemand zu Fuß auf den Weihnachtsmarkt stürmt und wahllos Menschen tötet? Auch in Zukunft müsse es möglich sein, sich in einer Stadt wie Berlin frei zu bewegen und gemeinsam zu feiern, hat Müller gesagt. „Wir wollen unser freies Leben nicht kaputtmachen lassen.“ Doch reicht das, um den Menschen die Angst zu nehmen? Reicht das nach all den Terroranschlägen in Paris, London, Manchester, Brüssel, New York und Barcelona?

    Ein Jahr nach dem Anschlag: Fast alle Händler sind wiedergekommen

    Die Schausteller vom Breitscheidplatz reagieren trotzig auf solche Fragen. „Wir sind der sicherste Weihnachtsmarkt Europas“, hört man dann oft. Und: „Unterkriegen lassen wir uns nicht.“ Nach Angaben der Veranstalter sind fast alle Händler wiedergekommen, obwohl sie 20 Prozent mehr Standgebühr zahlen mussten. Sicherheit hat ihren Preis. Tatsächlich reiht sich hinter dem Pollerriegel Bude an Bude. Aus den liebevoll geschmückten Hütten duftet es nach Zimt und Lebkuchen, nach Punsch und Bratwürsten.

    Annette Stritter kaut an ihrem Fladenbrot mit Champignon-Käse-Füllung. Zum ersten Mal seit dem Anschlag ist sie wieder hier auf dem Weihnachtsmarkt. Viele Gedanken darüber, dass ihr etwas passieren kann, macht sich die Frau mit den kurzen, blonden Haaren nicht. Sie zeigt auf drei Polizisten, die mit ernstem Blick und Maschinenpistolen an der Brust vorbeilaufen: „Das wirkt schon beruhigend.“

    Anis Amri, den Namen des Attentäters vom Breitscheidplatz, kennt inzwischen ganz Deutschland – erst recht, seit klar wurde, wie viele Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Pannen dem Anschlag vorausgegangen waren. Martin Germer erwähnt ihn in seiner Predigt nicht. Dem großgewachsenen Geistlichen mit Oberlippenbart und Brille geht es um die Opfer. Die zwölf verlorenen Leben. Die etwa 70 Verletzten. Die Angehörigen, die Schausteller. Germer ist Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Und er kennt den Schmerz der Menschen. Ihm selbst wurde jäh seine Liebste genommen. Das war 1997. Er war mit seiner Frau wandern. Sie stürzte ab, starb. 45 Minuten hielt Germer ihren leblosen Körper im Arm. Er hat damals viele Tränen vergossen. Am 19. Dezember 2016 tat er es wieder.

    Germer erinnert sich. Er habe sich nebenan im Europa-Center aufgehalten, als ihn seine Pressesprecherin anrief. Auf dem Breitscheidplatz sei irgendetwas Schlimmes mit einem Lkw passiert, habe sie gesagt. „Ich bin dann sofort hin. Die Polizei sperrte da schon den Platz ab.“ Der Pfarrer hält inne. Der Schmerz kommt zurück. Er muss schluchzen.

    Am Tag nach dem Anschlag hatte Germer zum großen Trauergottesdienst geladen. 800 Menschen füllten die Kirche. Draußen standen noch mehr. Der Regierende Bürgermeister war gekommen, die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident, ihre Gesichter fassungslos, versteinert. Auch ein Rabbi und einige Muslime waren da. Das Fernsehen übertrug die Messe. Tags darauf wurden am Breitscheidplatz wieder Glühwein und Bratwurst verkauft. Dem Terror zum Trotz.

    Auch der Pfarrer kämpft mit den Tränen

    Jetzt, knapp ein Jahr später, muss der Pfarrer erneut die richtigen Worte finden. Die Schausteller haben ihn darum gebeten: Ob er den Weihnachtsmarkt nicht mit einer Messe eröffnen könne, haben sie ihn gefragt. Wer kann da nein sagen? Einmal mehr muss Germer in der dunkelblau leuchtenden Kirche, unter den ausgebreiteten Armen Jesu, Trost spenden.

    Man habe sich zum Auftakt der Adventszeit, zum Beginn des Weihnachtsmarktes versammelt, sagt er. Zu einem fröhlichen Anlass also. Nur kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Denn ein fröhlicher Anlass ist dieser Gottesdienst für viele der etwa 50 Besucher nicht. Zu frisch sind die Erinnerungen, zu tief der Schmerz. Die Gesichter sind betrübt. Einer Frau kullern Tränen über die Wangen. Germer fährt fort: ein fröhlicher Anlass? „Seit letztem Jahr lässt sich das nicht mehr ungebrochen sagen.“ Auch ihm kommen die Tränen.

    Die Angehörigen der zwölf Todesopfer haben schreckliche Monate hinter sich. Gerichtsmediziner hatten die Getöteten schon wenige Stunden nach dem Anschlag identifiziert. Die Angehörigen wurden aber erst Tage später informiert. Und scheibchenweise wurde klar, dass die Behörden den einschlägig bekannten Täter stoppen hätten können, ja müssen. Auch die finanzielle Entschädigung ließ auf sich warten. Mehr als zwei Monate dauerte es, bis die Bundesregierung mit Kurt Beck, dem früheren Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, einen eigenen Opferbeauftragten einsetzte. Mehr als 1,5 Millionen Euro hat der Bund inzwischen ausgeschüttet, 25000 Euro pro Todesfall. Das sei im europäischen Vergleich noch immer wenig, hat Beck vor Kurzem in einem Interview mit der Rhein-Zeitung moniert.

    Auch Standbesitzer Max Müller wurde entschädigt. 23000 Euro habe die Verkehrsopferhilfe gezahlt, aus dem Härtefallfonds seien für ihn und seine Frau noch je 5000 Euro gekommen. Die Kosten für die neue Bude konnte er damit aber nicht decken, für die hat er einen Kredit über 30000 Euro aufnehmen müssen. Müller findet das nicht gerecht. „Als Griechenland pleite war, sind Milliarden geflossen“, sagt er verbittert.

    Es ist Abend geworden auf dem Breitscheidplatz. Eingepackt in dicken Mänteln schlendern Besucher vorbei an Bratwurst- und Süßigkeitenständen, trinken Glühwein und essen Lebkuchen. Die Lichterketten über dem Weihnachtsmarkt leuchten in Blau und Weiß, der Gedenkaltar auf den Stufen zur Gedächtniskirche ist in mattes Gelb getaucht. Immer wieder bleiben Menschen davor stehen, falten ihre Hände und murmeln ein Gebet. Dann lassen sie ihren Blick schweifen: über die Kerzen und Kreuze, Rosen und Zweige. Und über das Herz in der Mitte. „Nich mit uns Dikka“, steht dort schnoddrig. „Die Liebe wird gewinnen.“

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