Manfred Becker-Huberti war lange Pressesprecher des Erzbistums Köln. Er ist Ehrenprofessor für Theologie und hat ein Buch zum Heiligen Martin und den Bräuchen rund um sein Fest geschrieben.
Der heilige Martin lebte vor über 1600 Jahren, dennoch kennt jeder seine Geschichte. Wie kommt das?
Manfred Becker-Huberti: Martin ist aus vielen Gründen bis heute populär. Einer der wichtigsten ist, dass seine Gestalt die christliche Nächstenliebe verkörpert, und zwar so wie sie von Jesus Christus vorgeschrieben ist: den Nächsten so zu behandeln wie sich selbst. Das zeigt Martin, indem er seinen Mantel mit einem Bettler teilt. Auch das Martins-Bild, das aus der Antike übernommen wurde, spielt eine Rolle. Grabsteine von römischen Offizieren zeigen diese oft auf einem tänzelnden Pferd mit einem Schwert in der Hand, von dem Blut hinabtropft, und der getötete Feind liegt unten. Bei Martin ist es ähnlich, aber vom Schwert tropft kein Blut, das Schwert wird benutzt, um jemandem das Leben zu erhalten.
Weiß man, wie viel von dieser Geschichte wahr ist und wie viel Legende?
Becker-Huberti: Die erste Heiligenvita im Christentum, ist die von Martin. Er stirbt 397 und wir wissen, dass der Verfasser etwa um 395 mit dem Schreiben begonnen hat. Er hat Martin gut gekannt und insofern müssen wir davon ausgehen, dass vieles so geschehen ist. Wahrscheinlich ist es aber ein wenig überhöht.
Stimmt dann auch, dass er sich vor seiner Wahl zum Bischof im Gänsestall versteckt hat und von Geschnatter der Tiere verraten wurde? Angeblich gibt es deshalb Gänsebraten.
Becker-Huberti: Dass er sich versteckt hat, stimmt. Aber die Geschichte mit den Gänsen stimmt nicht. Die Legende hat einen Fehler. Wenn die Gänse ihn verraten hätten wäre es etwas Gutes und man müsste sie belobigen und nicht schlachten. Die Legende entstand erst im 14. Jahrhundert, als man nicht mehr wusste, welchen Sinn Gänse zu Sankt Martin haben.
Was war der ursprüngliche Sinn?
Becker-Huberti: Der Brauch kommt von einem anderen Fest. Denn der heilige Martin wird nicht zu seinem Todestag, dem 8. November, sondern am 11. November gefeiert, dem Tag seiner Bestattung. Dieser Tag war bereits ein Feiertag, ein Bauernfeiertag. Es war der Tag, an dem die Feldarbeit beendet und die Ernte verarbeitet war. Außerdem war es der Tag, an dem Bauern ihre Pacht zahlen mussten. Und da man das damals nicht mit Geld, sondern mit Lebensmitteln machte, wurde die Pacht mit Gänsen beglichen. Denn Gänse sind zu diesem Zeitpunkt gerade schlachtreif. So kommen die Martinsgänse zum heiligen Martin.
Und was steckt hinter den Laternenumzügen?
Becker-Huberti: In der kirchlichen Liturgie beginnt ein Fest nicht um Mitternacht, sondern zum Sonnenuntergang des Vortages. Zum Sonnenuntergang gab es in der Kirche eine Lichterfeier. Da bot es sich für die Prediger an, zu sagen: Ihr müsst genauso sein wie die Lampen in der Kirche, ein Licht in der Dunkelheit. Und was taten die Leute? Sie sind rausgegangen und haben Feuer angezündet. So entstand der Brauch. Die Kinder zogen umher, um Holz zu sammeln und machten ein großes Martinsfeuer. Das alles ist gelaufen bis in die Zeit um 1800. Doch es gab Kritik an den Feuern, denn die Häuser in den Dörfern und Städten waren überwiegend aus Holz. Also war ein Feuer mehr als gefährlich. Deshalb versuchte man, dieses Brauchtum zurückzudrängen. Damit war man auch erfolgreich bis auf die Region am Niederrhein und in Düsseldorf .
Was hat man dort gemacht?
Becker-Huberti: Dort hat man versucht, das Fest wieder zu initiieren. Aber man hat dazugelernt. Weil man den Rosenmontagsumzug in Köln kannte, kam die Überlegung: Können wir das nicht auch mit einem Martinszug machen. Mit einem Spiel, das Martin auf einem Pferd zeigte und den Bettler. Also eine Erklärung simpler Art über die Bedeutung des Festes. Außerdem kam man auf die Idee statt des Feuers Kinder mit Lampions auszustatten, die nach Möglichkeit etwas mit dem Fest zu tun haben, also den Heiligen auf dem Pferd zeigen oder den Bettler. Und so entstand das, was wir heute als Martinsbrauchtum kennen, das die meisten für uralt halten. Die Form entstand aber erst im 19. Jahrhundert.
Und das hat sich dann vom Niederrhein nach ganz Deutschland ausgebreitet?
Becker-Huberti: Und zwar ziemlich schnell. Vor allem in den Gebieten, die früher von den Franken besetzt waren. Denn dort gibt es überall Martinskirchen und eine gewachsene Beziehung zum heiligen Martin.
Woher kommen die Laternenlieder?
Becker-Huberti: Die sind ein Stück Romantik, die Martin manchmal im Hintergrund lassen. Natürlich gibt es eine Tendenz, je weiter man nach Norden kommt, den Heiligen wegzulassen, und daraus ein Lichterfest zu machen. Was meiner Meinung nach keinen Sinn hat. Warum soll ich eine Laterne durch die Dunkelheit tragen, wenn das Licht keine tiefere Bedeutung hat?
Das Martinsfest wird ja nicht nur in der katholischen Kirche gefeiert, sondern auch von Protestanten.
Becker-Huberti: Sie feiern aber Martin Luther. Der hatte zu erleiden, was die Kinder seiner Zeit alle erlitten. Sie hatten meistens Namenstag und Geburtstag an einem Tag, weil die Eltern aus Bequemlichkeit auf den Tagesheiligen als Namen zurückgriffen. So ist es Martin Luther auch ergangen. Er ist nach dem heiligen Martin benannt worden. Es gibt sogar gemeinsame Feiern.