Die Stimmen aus der Bild-Redaktion zur angekündigten Trennung vom bisherigen Chefredakteur Julian Reichelt wirkten irritierend. Da twitterte der stellvertretendeBild-Chefredakteur Paul Ronzheimer am späten Montagabend: Reichelt werde „immer einer der besten Journalisten bleiben! (...) Danke, mein Freund!“ Dahinter postete er ein großes, rotes Herz.
Filipp Piatov, verantwortlich für „Meinung“ bei Bild, schrieb „Danke, Julian Reichelt“ und verlinkte auf ein Video von Bild Live, in dem Ronzheimer mit fast tränenerstickter Stimme sagt: „Heute ist ein besonderer, ein schwerer Abend“. Bild-Moderatorin Nena Schink schließt sich ihm mit den Worten an: „Es ist toll, für einen Mann zu arbeiten, der einem immer das Gefühl gibt: The sky is the limit. Und nicht: Die letzten Tage des Journalismus liegen hinter uns.“
Bild-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter halten zu Julian Reichelt
Das irritierte deshalb, weil die Axel Springer SE kurz vorher Reichelt „mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden“ hatte. Demnach habe er auch nach Abschluss eines internen „Compliance-Verfahrens“ im Frühjahr 2021 „Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt“. Es geht um Affären am Arbeitsplatz, die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen und Machtmissbrauch – um Sex und Lügen also; im Grunde Stoff, wie ihn Boulevardmedien mögen: die Reichelt-Story. „Wie empathiebefreit müssen Springer-Männer (...) sein, wenn sie jetzt Reichelt danken, aber kein Wort zu den Frauen verlieren, die Reichelt ’benutzt’ hat“, schrieb Viktor Funk von der Frankfurter Rundschau.
Neben Unterstützung für Reichelt von Ex-Mitarbeiterinnen und -mitarbeitern und speziell aus rechtspopulistischen und verschwörungsideologischen Kreisen – in denen er als wortgewaltiger Regierungskritiker und Kämpfer gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen gilt – ergoss sich im Netz Häme über den bis Montag noch ebenso einflussreichen wie umstrittenen Journalisten. Die Süddeutsche Zeitungkommentierte: „In Summe wirkte das alles wie das Ende eines Schurkenfilms.“
Die Angelegenheit wirft viele Fragen auf. Erste Antworten gibt es am Dienstag
Doch mit der Entbindung Reichelts von seinen Aufgaben ist die Angelegenheit nicht beendet. Denn sie wirft Fragen auf, die – auch – über die Medienbranche hinausreichen: Brauchte es die New York Times, damit sich Deutschland ein Bild vom Arbeitsklima bei einem wirkmächtigen und meinungsprägenden Medium machen konnte? Oder: Wie ist die Rolle von Mathias Döpfner, CEO der Axel Springer SE, einzuschätzen?
Der hielt lange an Reichelt fest. Kritisiert wird er nun vor allem dafür, dass er dem New York Times-Bericht zufolge Reichelt Anfang März in einer Mail an Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre – mit Bezug auf einen Reichelt-Kommentar zu den Corona-Maßnahmen – wie folgt verteidigt habe: Man müsse bei der internen Untersuchung „besonders genau vorgehen“, weil Reichelt „halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland“ sei, „der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ aufbegehre. „Fast alle anderen sind zu Propaganda-Assistenten geworden.“ New York Times-Medienkolumnist Ben Smith veröffentlichte diesen deutschen Wortlaut, nachdem er von Kollegen darum gebeten worden war. Ein Springer-Sprecher hatte unserer Redaktion zuvor erklärt, dass das Zitierte „außerhalb des Kontexts überhaupt nicht sinnvoll zu würdigen“ sei. „Selbstverständlich hält Mathias Döpfner die Bundesrepublik Deutschland nicht für vergleichbar mit der DDR.“
In der Angelegenheit geht es aber auch um das, was unter dem Stichwort „MeToo“ („ich auch“) seit Jahren öffentlich wird: Fälle von Machtmissbrauch und sexueller Übergriffigkeit – weltweit und branchenübergreifend. Sowie: um die (innere) Pressefreiheit. Neben der New York Times recherchierte das Team von „Ippen Investigativ“. Verleger Dirk Ippen (Münchner Merkur, Frankfurter Rundschau) stoppte jedoch eine Veröffentlichung. „Als Mediengruppe, die im direkten Wettbewerb mit Bild steht, müssen wir sehr genau darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, wir wollten einem Wettbewerber wirtschaftlich schaden“, sagte Johannes Lenz, PR & Brand Manager bei Ippen.
Ippen will an seinem Investigativ-Team festhalten. Dessen Recherche zu Reichelt und der Bild durfte bislang nicht erscheinen
Noch am Montag, um 21.31 Uhr, erschien dann auf Spiegel.de ein Artikel mit „Teilen“ der Recherchen des Teams von Ippen Investigativ um Daniel Drepper. Ein überaus ungewöhnlicher Vorgang. Drepper ließ am Dienstag Nachfragen nach möglichen – arbeitsrechtlichen – Folgen unbeantwortet.
Johannes Lenz sagte auf Anfrage, dass die Unternehmensleitung nicht über die Veröffentlichung im Spiegel informiert gewesen sei. Zugleich betonte er: „Es werden keine Konsequenzen für das Team daraus folgen.“ Es stehe „völlig außer Frage, dass wir weiter zusammenarbeiten wollen“. Auf die Frage, ob die Ippen Investigativ-Recherche zu Reichelt und Bild nun doch noch bei Ippen erscheinen werde, sagte Lenz: „Derzeit prüfen wir, wann und wie wir eine Veröffentlichung publizieren.“
In dem Spiegel-Artikel wird Reichelts Umgang mit jungen Kolleginnen, der „mindestens fragwürdig“ sei, detailliert geschildert. Die Axel Springer SE hatte am Montag betont: „Es gab im Rahmen des Compliance-Verfahrens gegen Julian Reichelt nie den Vorwurf sexueller Belästigung oder sexueller Übergriffe.“ Es habe aber den Vorwurf „einvernehmlicher Liebesbeziehungen zu Bild-Mitarbeiterinnen und Hinweise auf Machtmissbrauch in diesem Zusammenhang“ gegeben.
So schätzt Moritz Tschermak von BILDblog den künftigen Kurs der Bild ein
Wie es jetzt bei Bildunter dem neuen Vorsitzenden der dreiköpfigen Chefredaktion, Johannes Boie, weitergeht, der als Chefredakteur vom Springer-Blatt Welt am Sonntag kommt? „Der Austausch auf dem Chefredakteursposten hat bei Bild immer größere Auswirkungen, weil die inhaltliche Ausrichtung sich bei Bildnoch mal stärker als bei anderen Redaktionen nach dem jeweiligen Chef richtet“, sagte Moritz Tschermak unserer Redaktion. Boie habe, so der Leiter des medienkritischen BILDblog und Mitautor des Buches „Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie Bild mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet“, bei der Welt am Sonntag auch Editorials geschrieben, „die kräftig zugelangt haben“. „Ob er beim Krawall und beim Populismus an Reichelt rankommt, bezweifle ich“, sagte er. Gleichwohl heiße das nicht, dass Bild nun lammfromm werde.