Herr Altmeppen, in Solingen soll eine junge Mutter fünf ihrer sechs Kinder getötet haben. Die Bild-Zeitung interviewte einen zwölfjährigen Freund ihres überlebenden elfjährigen Sohnes und veröffentlichte WhatsApp-Nachrichten, die sich die beiden Kinder schrieben – offenbar nachdem der Elfjährige vom Tod seiner Geschwister gehört hatte. RTL berichtete ähnlich. Ist die Bild-Berichterstattung im Fall Solingen mit Blick auf die vergangenen Jahre besonders abstoßend?
Klaus-Dieter Altmeppen: Eklig, verroht, sittlich unreif, so einige der Pressekommentare: Für die Berichterstattung von Bild und RTL über die Tötung von fünf Kindern in Solingen gibt es kaum noch Ausdrücke, die das menschenverachtende, jegliche Würde verhöhnende Handeln beschreiben könnten. Nur, was die Zukunft betrifft: Es geht, so trostlos das auch ist, immer noch eine Stufe runter auf der Skala der Niederträchtigkeiten in der Berichterstattung.
Was genau ist aus Ihrer Sicht in diesem Fall das besonders Abstoßende?
Altmeppen: Opfer der Berichterstattung dieser sogenannten Journalistinnen und Journalisten können sich generell nicht wehren, weder bei den Interviews noch hinsichtlich der Artikel und ihres Inhaltes. In diesem Fall handelt es sich um Kinder in einer kaum vorstellbaren Extremsituation. Und was tun die sogenannten Journalistinnen und Journalisten? Sie benutzen ein Kind, um an Informationen und private Aussagen eines anderen Kindes auf Whatsapp zu gelangen.
Das Springer-Blatt Bild ignoriert regelmäßig Rügen des Presserats und druckt sie nicht ab. Zeigt sich darin, wie stumpf dessen Sanktionsmittel sind?
Altmeppen: Nicht nur das. Viel schlimmer ist das „System Bild-Zeitung“: Sie nutzt solcherart Berichterstattung offensichtlich als strategisches Mittel, um Aufmerksamkeit und Auflagen zu generieren. Und transportiert dieses System über ehemalige Chefredakteurinnen schon an andere Medien wie RTL.
Sie meinen Tanit Koch. Die war Vorgängerin des aktuellen Bild-Chefs Julian Reichelt und ist nun Chefredakteurin der Zentralredaktion der Mediengruppe RTL.
Altmeppen: Ja. Aber wenn schon Journalistinnen und Journalisten individuell, etwa aus Karrieregeilheit, keinerlei ethisches Empfinden haben, sollten zumindest die Redaktionen als kollektiv organisierte Institutionen eingreifen und schon die Recherche in solchen Fällen stoppen. Aber an einem überhaupt erkennbaren Maß an Verantwortung ist die Bild-Chefredaktion nicht interessiert. Und selbst der Vorstand von Axel Springer goutiert offenbar diese Art von Menschenverachtung der Berichterstattung. Jedenfalls ist nicht vorstellbar, dass die Vorstände eines so großen Unternehmens wie Springer nicht mit dem Chef einer ihrer wichtigsten Abteilungen über dessen Geschäftsgebaren sprechen. Konsequenzen aber sind seit Jahren nicht erkennbar beim Springer-Konzern.
Es gab – unter anderem von der taz – Aufrufe an Bild-Kollegen, Sie sollten sich von ihrem Arbeitgeber distanzieren. Es gab Boykott-Aufrufe, das Blatt nicht mehr zu kaufen beziehungsweise an Politiker gerichtet, Bild keine Interviews mehr zu geben. Der Publizist Mario Sixtus veröffentlichte auf Twitter das Foto einer Bild-Reporterin: Sie kaufe Interviews mit minderjährigen Mitschülern des überlebenden Kindes…
Altmeppen: Die Veröffentlichung von Fotos sowie Adressen oder Telefonnummern ist genauso unethisch wie das, was angeprangert wird. Ein breit getragener Boykott wäre eine sinnvolle Maßnahme. Damit könnten ja all die Kolumnisten und Sportkommentatoren der Bild schon mal öffentlichkeitswirksam anfangen. Es wäre auch eine gute Idee, wenn es eine breite Mehrheit gäbe für eine Reform des Presserates, um ihm Sanktionspotenzial zu ermöglichen, das wehtut.
Der Presserat ist das Selbstkontrollorgan der deutschen Presse. Sein schärfstes Schwert ist eine öffentliche Rüge, die das jeweilige Medium abdrucken muss. Es ist eine Selbstverpflichtung. Aber zurück zu Bild-Chef Reichelt. Führt er das Blatt zurück in frühere Zeiten, in denen es häufig unter offensichtlicher Missachtung der Menschenwürde Krawall und Politik machte?
Altmeppen: Frühere Zeiten möchte und muss er vielleicht ökonomisch wieder erreichen. Ansonsten ver-bieten sich alle historischen Vergleiche angesichts der Widerwärtigkeiten dessen, was bei der Bild-Zeitung irreführenderweise als Journalismus bezeichnet wird.
Klaus-Dieter Altmeppen, 1956 in Münster geboren, ist gelernter Kaufmann. Nach dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg studierte er Neuere Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaft in Münster. Seit 2016 leitet der Journalistik-Professor der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt das Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft mit dem Medienethiker Alexander Filipovic. Seit 2017 ist Altmeppen zudem Leiter des Zentrums Flucht und Migration der KU Eichstätt-Ingolstadt.
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