Diese Geschichte zählt zu unseren besten Reportagen 2020 und erschien erstmals am 7. Mai.
Nun schauen sie sich also in die Augen. Judith und Daniel, 26 und 25 Jahre alt. Seit drei Jahren sind sie ein Liebespaar. Eigentlich würden sich die beiden in die Arme schließen. Stattdessen sitzen sie vor ihrem Laptop, einer Maschine aus Plastik und Drähten. Sie bei Wolfsburg, er in Lyon. Ohne Aussicht auf das nächste Treffen.
"Ich will nur eine Perspektive", sagt Judith. "Es ist schrecklich", sagt Daniel.
Das Paar verzweifelt. Vor ein paar Wochen noch lebte es in einem Europa mit offenen Grenzen, besuchte sich regelmäßig im Land des jeweils anderen. Das Datum des nächsten Besuchs war ein verlässlicher Fixpunkt, der die Distanz erträglich machte. 1000 Kilometer – one way.
Dann kam Corona. Die Schlagbäume an den Grenzübergängen fielen. Der Gedanke dahinter: Wer Grenzen schließt, unterbindet Kontakte und bekämpft Corona. Viele hielten das anfangs für eine gute Idee, inzwischen aber mehren sich die kritischen Stimmen in Politik und Gesellschaft. Muss es für Liebespaare und Familien nicht eine Ausnahme geben?
Im Moment ist es jedenfalls so: Rund um Deutschland sind die Grenzen dicht. Kaum einer kommt mehr rein, kaum einer raus. Dienten Grenzkontrollen in den vergangenen Jahren hauptsächlich dazu, Flüchtlinge auszusperren oder Kriminelle zu stoppen, sorgen sie jetzt dafür, dass viele EU-Bürger sich eingesperrt fühlen.
"Du fühlst diese Leere, es ist wirklich schlimm."
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Nach Deutschland kommt nur noch, wer Deutscher ist oder einen dringenden Grund nachweisen kann – zum Beispiel den Besuch des Ehepartners. Das Problem: Für Partner, die ihre Partnerschaft nicht beweisen können, ist an der Grenze meist Stopp. Und an den Grenzen vieler anderer Länder wie der Schweiz, Frankreich oder Polen sieht es ähnlich aus. Einfach so einreisen? Keine Chance. Eine grenzüberschreitende Beziehung in Zeiten von Corona? Kompliziert.
Das spüren nicht nur Judith und Daniel. Da gibt es auch Christine aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis, die sich um ihren kranken Partner in der Schweiz sorgt. Ulrich aus der Nähe von Hamburg, der seine französische Freundin vermisst. Sebastian aus Gießen, der seine Verlobte aus Thailand seit Monaten nicht mehr in die Arme nehmen konnte. Brigitte aus dem Unterallgäu, die ihren Partner das letzte Mal vor zwölf Wochen am Gardasee besucht hat. Oder eben Judith und Daniel, die neben der Sehnsucht auch ein Datum plagt: der 6. Juni.
Dann will das Paar heiraten. Nicht in Frankreich, nicht in Deutschland – sondern in Dänemark. Weil der bürokratische Aufwand dort erträglicher sei für einen Nicht-EU-Bürger wie Daniel, der aus Nigeria stammt. Noch eine geschlossene Grenze mehr also.
"Corona wirkt wie ein Brennglas."
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Judith und Daniel, Ulrich und Myriam, Brigitte und Franco: Jedes dieser Schicksale ist einzigartig. Aber alle erzählen dieselbe Geschichte von Sehnsucht und enttäuschter Hoffnung. Und es sind immer mehr Menschen, die diese Gefühle nicht mehr ertragen wollen oder können: Verschiedene Petitionen im Internet kommen inzwischen auf mehr als 30.000 Unterstützer. Die Forderungen klingen ähnlich: Paare und Familien sollen Grenzen auch in Krisenzeiten leichter überqueren dürfen.
Eine dieser Petitionen stammt vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften, der nach eigenen Angaben jährlich 20.000 Anfragen von durch Grenzen getrennten Partnern bekommt und sie juristisch oder psychosozial berät. Zusätzlich zu den gewöhnlichen Anfragen, wie etwa zur grenzübergreifenden Eheschließung oder Trennung, kommen jetzt viele Unklarheiten in der aktuellen Krise dazu: "Corona wirkt wie ein Brennglas. Die Anfragen haben sehr zugenommen", sagt Verbandssprecherin Carmen Colinas.
Deshalb hat sie die Petition gestartet, die bislang von rund 3000 Menschen unterzeichnet wurde. Es gehe darum, sichtbar zu machen, dass unzählige Paare und Familien unter den geschlossenen Grenzen leiden würden. Und die Situation sei ernst. "Viele drehen durch", sagt Colinas. Und das sei kein Wunder. Das Schmerzhafte für viele Paare sei vor allem der fehlende Fixpunkt: Wann sehe ich den anderen wieder? In einer Woche, im Sommer, erst im Herbst?
Weil die Situation so dramatisch sei, ist in diesen Tagen ein offener Brief mit Hinweis auf die Petition nach Berlin unterwegs. Einer der Adressaten: Bundesinnenminister Horst Seehofer, sozusagen der Herr über die Grenzen.
Ob Seehofer diese Forderungen ernst nimmt? Eine entsprechende Anfrage an das deutsche Bundesinnenministerium bleibt trotz Nachfrage unbeantwortet.
"Es nervt. Du fühlst diese Leere, es ist wirklich schlimm", sagt Daniel. Er und seine Verlobte schmieden nun die wildesten Pläne. Wäre es möglich, über die Schweiz nach Deutschland einzureisen und dann weiter nach Dänemark? Oder gibt es vielleicht doch eine Flugverbindung? Und was ist, wenn zwar das Brautpaar zur Hochzeit nach Dänemark einreisen kann, aber die Gäste nicht?
Judith sagt: "Ich bin jetzt an einem Punkt, wo mir egal ist, wer kommt. Ich möchte einfach heiraten!" Dann hätten sie und Daniel endlich "dieses Stück Papier" und niemand könne sie mehr voneinander trennen. Die Ehe, für das binationale Paar ist sie nicht nur ein symbolischer und heiliger Akt – sie ist auch eine Art Fahrkarte, die sie in einem Europa der geschlossenen Grenzen dringend brauchen.
Und vielleicht helfen ihnen ihre Träume bis dahin über ihre Sehnsucht hinweg.
So wie bei Ulrich aus Hamburg, der seine Sachen gepackt und ins Auto verladen hat. Die Kunden des selbständigen Handwerkers wissen es bereits: Sobald die Grenzen öffnen, ist Ulrich weg. Lässt alles stehen und liegen. Fährt 1500 Kilometer, immer Richtung Südwesten bis nach Bordeaux.
Oder wie Brigitte aus dem Unterallgäu, die gemeinsam mit ihrem Partner einen Bungalow in Italien errichten will. Ein Rückzugsort für Franco und sie. Es ist ihr Zukunftsprojekt.
Und wonach sehnen sich Judith und Daniel? Dass sie die Grenzen nach Deutschland und Dänemark überwinden. Dass sie sich das Ja-Wort geben können. Vielleicht sogar vor einer Handvoll Gäste. Und möglicherweise spielt sogar noch das Wetter mit bei der Feier direkt am Meer am Fuße eines Leuchtturms. Zumindest Träumen sind ja keine Grenzen gesetzt.
Hinweis der Redaktion: Wer in der aktuellen Situation Hilfe sucht, kann sich beispielsweise an den "Verband binationaler Familien und Partnerschaften" wenden oder sich in Facebook-Gruppen wie "Familien und Paare in einem Europa ohne Grenzen" mit Leidensgenossen austauschen.