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Berlin: Wie kriminelle Obdachlose den Tiergarten in Verruf brachten

Berlin

Wie kriminelle Obdachlose den Tiergarten in Verruf brachten

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    Obdachlosen-Zelte im Berliner Tiergarten: Ein illegales Lager ist mittlerweile geräumt. Aber damit sind die Probleme nicht beseitigt.
    Obdachlosen-Zelte im Berliner Tiergarten: Ein illegales Lager ist mittlerweile geräumt. Aber damit sind die Probleme nicht beseitigt. Foto: Paul Zinken, dpa

    Vor Giovanni Maramotti muss niemand Angst haben. Brav wartet er an diesem kühlen Abend auf dem Alexanderplatz in Berlin, bis der blaue Bus kommt. Als er die grellen Scheinwerferlichter sieht, winkt er ausladend mit beiden Armen. Der Van hält an. Der Mann steigt ein. Und fängt an zu erzählen.

    Maramotti, 51, grauer Vollbart, ausgeprägter Bauch, ist seit drei Jahren obdachlos. Es sei nach und nach bergab gegangen, sagt er. Arbeit weg, Geld weg, Wohnung weg. Plötzlich lebte er auf der Straße.

    Maramotti ist Italiener. Das hilft. Als EU-Bürger können Italiener in Deutschland frei leben, auch wenn sie kein Dach über dem Kopf haben. Deshalb ist Maramotti geblieben. In seine Heimat, ins norditalienische Sassuolo, wollte der 51-Jährige eh nicht mehr zurück. Die Kleinstadt sei ihm, einem schwulen Single, zu engstirnig, zu konservativ. In Berlin fühle er sich akzeptierter und freier. Doch auch hier, sagt er, sei das Leben rauer geworden. „Die Obdachlosen aus Osteuropa werden mehr“, sagt er. „Und einige von ihnen sind richtig aggressiv. Sie beleidigen andere, drohen ihnen.“ Maramotti schüttelt wütend den Kopf. Dann fährt er fort: „Einmal hat ein Pole einen Bulgaren vor meinen Augen geschlagen. Mit voller Wucht. Mitten ins Gesicht. Einfach so.“

    Die Obdachlosen in Berlin sind in die Schlagzeilen geraten. Drogen, Prostitution, Raub – und Mord, im Herzen der Stadt, im Tiergarten. Es war ein milder Spätsommerabend. Susanne F. genoss mit Freundinnen draußen vor dem Restaurant Schleusenkrug, am Rande des Parks, die letzten warmen Sonnenstrahlen. Gegen zehn Uhr abends verabschiedete sie sich. Sie sollte ihre Freundinnen nie wieder sehen.

    Susanne F. lag im Gebüsch - sie wurde erwürgt

    Drei Tage später fanden Spaziergänger die 60-Jährige 200 Meter vom Schleusenkrug entfernt tot im Gebüsch. Sie war erwürgt worden. Ihr fehlten Handy und 50 Euro. Wenige Tage später nahm die Polizei den mutmaßlichen Täter fest. 18 Jahre alt, Tschetschene, Flüchtling, obdachlos, offenbar wegen Diebstahls und Raubs vorbestraft. Einer, den die Behörden schon lange abschieben wollten, einer, der sich an jenem Abend gar nicht im Tiergarten hätte aufhalten dürfen. Doch niemand wusste, wo er war. Er war abgetaucht, mitten im größten Landschaftspark der Stadt, einen Steinwurf entfernt von Brandenburger Tor und Reichstag. Als er wieder auftauchte, war Susanne F. tot.

    Einst war der Tiergarten rund um die Siegessäule Jagdrevier des brandenburgischen Adels. Jetzt kommen die Ärmsten der Armen. Flüchtlinge und Obdachlose. Stricher und Freier. Verlorene und Vergessene. Der Park liegt günstig für sie. Touristen tummeln sich in der Umgebung, stellen Pfandflaschen ab und geben Bettlern hin und wieder ein paar Münzen. Ein wenig Geld lässt sich also verdienen. Zudem können Obdachlose in der nahen Bahnhofsmission des Bahnhofs Zoo duschen. Doch dann gab es im Park immer mehr Überfälle, nahmen Jogger auf ihren Touren lieber Pfefferspray mit, fingen Berliner an, den Tiergarten ganz zu meiden.

    Kurz nach dem Mord lud Stephan von Dassel zu einem Pressetermin. Von

    „Die Situation ist völlig außer Kontrolle“, klagte von Dassel. Dann erzählte er von Mitarbeitern des Ordnungsamtes, die jeden Tag gebrauchte Drogenspritzen aus den Büschen herauszogen, von Flüchtlingen, die sich prostituierten, von osteuropäischen Obdachlosen, die immer aggressiver würden. „Mit der bisherigen Politik kommen wir nicht weiter“, sagte er. Berlin müsse Abschiebungen ernsthaft prüfen, auch für EU-Bürger aus Osteuropa.

    Sind Abschiebungen möglich?

    Das Wort „Abschiebungen“ hätte er vielleicht lieber nicht in den Mund nehmen sollen, hat von Dassel später gesagt – wobei: Eine

    Es ist ruhig geworden im Tiergarten und leer, gerade abends. Auf den Hauptwegen erhellen Laternen das dunkle Pflaster. In den Büschen und Sträuchern dahinter ist es stockfinster. Das heruntergekommene Toilettenhäuschen, vor dem sich noch vor wenigen Wochen Flüchtlinge für zehn Euro und weniger prostituierten, steht einsam und verlassen da. Kein Wispern, kein Tuscheln ist mehr zu hören. An der Stelle, wo Susanne F.s Leiche gefunden wurde, liegen nun Kerzen und Rosen. Mittendrin steckt ein laminiertes DIN-A4-Blatt. „Liebe Susanne“, steht darauf. „Dein Schicksal ist für uns alle unbegreiflich.“

    Das Restaurant Schleusenkrug hat geöffnet. Alle paar Minuten kommen neue Gäste herein, die Brillengläser beschlagen, die Hände rot vor Kälte. Ein junger Kellner steht am Tresen und zapft kühles Bier. Er beginnt zu erzählen. Als die Gewalt im Tiergarten zunahm, seien er und seine Kollegen nur noch zu zweit zur nahen S-Bahn-Station Bahnhof Zoo gelaufen. Gästen habe das Lokal Taxi-Gutscheine gegeben. Allein zu gehen, sei zu gefährlich gewesen, sagt er. Und jetzt? Der Kellner streckt beide Daumen nach oben. „Die Obdachlosen sind weg, die Polizei fährt regelmäßig Streife. So sicher haben wir uns schon lange nicht mehr gefühlt.“

    So schön ist der Berliner Tiergarten von oben. Inzwischen ist in dem Park wieder etwas Ruhe eingekehrt.
    So schön ist der Berliner Tiergarten von oben. Inzwischen ist in dem Park wieder etwas Ruhe eingekehrt. Foto: Sophia Kembowski, dpa

    Wo die Obdachlosen aus dem Tiergarten hin sind, weiß niemand so genau. Weder die Behörden, noch die Polizei. Selbst die nicht, die es am ehesten wissen könnten, die Notunterkünfte. Die der Berliner Stadtmission etwa, nahe dem Hauptbahnhof. „In ihre Heimatländer sind sie sicher nicht zurückgekehrt“, sagt Pressesprecherin Ortrud Wohlwend. „Sie werden irgendwo in Berlin versteckt leben.“

    Maramotti hat Glück. Das Thermometer zeigt an diesem Abend gut über null Grad an. Notfalls hätte er auch draußen schlafen können. Wie viele andere Obdachlose. Mit seiner dicken Jacke, dem roten Schal und seiner Mütze mit Ohrenschützern hätte er die Nacht irgendwo in einer U- oder S-Bahn-Station durchstehen können. Warm genug wäre es wohl gewesen.

    Doch Maramotti wollte einen Schlafplatz in einer beheizten Stube. Das wird jetzt, wenn der Winter kommt, wenn Schnee und Eis auf den Straßen liegen, wenn sich vor den Notunterkünften Schlangen bilden, immer schwieriger. Denn so viele Obdachlose wie diesen Winter dürfte es in der Hauptstadt schon lange nicht mehr gegeben haben.

    4000 bis 6000 von ihnen leben zurzeit in Berlin. Sie kommen aus mehr als 80 Ländern. Etwa 1000 Schlafplätze in Notunterkünften stehen bereit. Einen davon wollte Maramotti ergattern. Der Italiener hat kein Handy. Deshalb bat er einen Polizisten, den Kältebus der Stadtmission anzurufen. Der bringt Obdachlose in Notunterkünfte.

    Jetzt, eine halbe Stunde später, sammelt ihn der blaue Van ein. Entzückt ist Lars, der Fahrer, allerdings nicht. „Wir sind kein Taxi“, rüffelt er Maramotti. „Es gibt Obdachlose, denen wir dringender helfen müssen, denen es schlechter geht.“

    Selbst der Kältebus-Fahrer ergriff die Flucht

    Lars kennt das Elend da draußen. Er sieht es fast jeden Tag. Seit November lenkt der 23-Jährige mit Kapuzenpulli und Käppi den Kältebus. Er trifft wütende und verzweifelte, beschämte und alkoholisierte Menschen. Nur wenige kommen mit ihm mit. Die meisten wollen bleiben. An ihrem selbst eingerichteten Schlafplatz, der oft Matten und Decken hat, aber nie Rollladen und Heizung. Lars bietet ihnen dann Schlafsack und Isomatte, warmen Tee und süße Schokolade an. Einige schlagen auch das aus. Und manche werden richtig aggressiv.

    Einmal, sagt Lars, wollte er ein paar Junkies an einer S-Bahn-Station im Süden Berlins besuchen. Doch schon von Weitem sei er wüst beschimpft und bedroht worden. Lars rannte zurück zum Bus, schloss die Tür und trat aufs Gas. Seitdem meidet er diesen Ort. „Wenn sich die Obdachlosen nicht helfen lassen wollen, müssen wir das akzeptieren“, sagt er lapidar.

    An diesem Abend freuen sich die meisten Obdachlosen, als Lars vorbeikommt. Ein Mann Mitte 40 etwa, der vor einem Bankautomaten im Bezirk Friedrichshain kauert. Er riecht nach Schweiß und Wodka. Er hat sich an der Stirn zwei Wunden zugezogen. Das Blut glänzt im fahlen Laternenlicht. „Ich brauche alles: Schuhe, Socken, Jacke“, lallt er mit starkem polnischem Akzent. Lars nickt, eilt zurück und kommt mit Altkleidern wieder. „Danke“, sagt der Mann und lächelt.

    Es sind überwiegend Polen, die Lars bei dieser Fahrt trifft. Nur wenige verstehen Deutsch, manche noch nicht einmal Englisch. Die polnische Regierung könne ihr soziales Problem nicht in Berliner Grünflächen lösen, hat Bezirksbürgermeister von Dassel im Oktober gesagt. Geändert hat sich nichts.

    „Polen geht ganz anders mit Obdachlosen um“, erzählt Stadtmissions-Sprecherin Wohlwend. „Wenn sie im Stadtbild stören, müssen sie nicht nur ihren Platz verlassen, sondern auch noch alle Sachen abgeben.“ In den vergangenen Wintern seien in Polen sogar Obdachlose erfroren.

    Giovanni Maramotti kennt die Not seiner osteuropäischen Leidensgenossen. Er kann auch verstehen, warum sie lieber in der deutschen Hauptstadt ausharren: „Hier müssen sie nicht arbeiten, hier werden sie gut versorgt. Für sie ist Berlin ein Paradies.“

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