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Augsburg: Vinyl-Verkäufe steigen seit Jahren: Der Reibach mit der Rille

Augsburg

Vinyl-Verkäufe steigen seit Jahren: Der Reibach mit der Rille

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    Die Schallplatte feiert ein Comeback. Hauptsächlich junge Genres wie Techno oder Hip-Hop, aber auch Klassiker profitieren von dieser Welle.
    Die Schallplatte feiert ein Comeback. Hauptsächlich junge Genres wie Techno oder Hip-Hop, aber auch Klassiker profitieren von dieser Welle. Foto: Oliver Berg, dpa (Symbolfoto)

    Das sanfte Knistern, wenn die Nadel die Rille abtastet: Das finden jetzt alle wieder romantisch, analog, nostalgisch. Martin Maag weiß es schon lange zu schätzen: „Wenn du eine Platte auflegst, ist das ein bewussteres Musikhören. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn du 50000 Tracks auf deinem iPhone hast.“

    Martin Maag, 54, ist freilich befangen. Er ist nicht nur langjähriger DJ und Eigentümer einer gewaltigen Vinylsammlung, sondern auch Inhaber des Ulmer Plattenladens „Soundcircus“. Ein kleines Geschäft, das in den rund 29 Jahren seines Bestehens Höhen und Tiefen des Vinyl-Geschäfts erlebt hat. Und jetzt auch den neuen Boom des einst totgesagten Mediums, das am heutigen Samstag mit dem „Record Store Day“ so etwas wie seinen jährlichen hohen Festtag begeht.

    Erst vor ein paar Tagen legte der Branchendienst GFU Statistiken für das vergangene Jahr vor (wir berichteten). Demnach wurden 2016 in Deutschland 3,1 Millionen Schallplatten verkauft. Gegenüber 2015 stieg der Umsatz um 40 Prozent auf 70 Millionen Euro, was sogar den

    Seit 2007 ist der Vinyl-Markt ununterbrochen auf Wachstumskurs – das Revival feiert dieses Jahr quasi sein Zehnjähriges. Übrigens genau wie der „Record Store Day“, der einst gegründet wurde, um den unabhängigen Plattenläden Aufmerksamkeit und Umsatz zu verschaffen. Jenen Läden, die dem Format auch im goldenen Zeitalter der CD und dem Aufstieg von Streaming und MP3 tapfer die Treue hielten – auch in den Krisenjahren.

    Vinyl: Mehr als nur Widerstand gegen den Mainstream

    Bei allem neuen Jubel über die lukrative Nische: Das Geschäft mit der Schallplatte hat einen Umbruch hinter sich. Noch in den 1990ern war Vinyl ein Medium des Widerstands: Während die Industrie die schwarze Scheibe weitgehend ignorierte, hielten vor allem unabhängige Labels an ihr fest.

    In mancher Szene, etwa beim Punk oder der elektronischen Musik, blieb sie das Format der Wahl. Sie war unverzichtbar für die aufblühende Techno- und Hip-Hop-Kultur, wichtigstes Werkzeug, Fetisch und dementsprechend ein bedeutender Umsatzfaktor für den Handel. Heute legt das Gros der DJs mit CD-Playern oder Laptop auf. Die verbliebenen Vinyl-Verfechter kaufen zu einem großen Teil in Online-Shops ein. Auf diese Klientel spezialisierte Plattenläden gibt es fast nur noch in Metropolen; andere haben dichtgemacht oder verhökern jetzt zusätzlich Mode oder Turnschuhe.

    Daran hat sich auch seit dem Beginn des Vinyl-Revivals wenig geändert. Vom Boom profitieren vor allem Großanbieter wie Media Markt und Müller, die in ihren Musikabteilungen plötzlich wieder Regale mit Vinyl aufgestellt haben, dazu Online-Händler wie Amazon, die große Sortimente anbieten können.

    Hip-Hop, Elektro und Klassiker

    Der Blick auf die 2015 eingeführten deutschen Vinyl-Charts lässt erahnen, wer die Träger des Aufschwungs sind: Hip-Hop und andere tendenziell junge Genres sind unterrepräsentiert, dafür befinden sich in den Top 20 auch Klassiker von Pink Floyd oder Nirvana.

    Natürlich gibt es auch Musikfans um die 20, die Vinyl cool finden. Mehr Umsatz aber schafft die CD-Generation, die sich ihre Lieblings- alben noch einmal auf Schallplatte holt. Sie zahlt dafür offenbar auch gerne etwas mehr: Während Alben auf CD heute oft kaum teurer sind als MP3-Downloads, sind die Preise für die Vinyl-Editionen (die immerhin meist noch einen Download-Code für die digitale Version enthalten) signifikant gestiegen.

    25, 30 Euro und mehr sind normal, speziell bei den Veröffentlichungen der Musik-Multis. Sonderausgaben sind oft deutlich teurer. Weitere Schattenseite des Booms: Weil die wenigen verbliebenen Presswerke mit all den Wiederauflagen, gewichtigen „Collectors-Boxen“ und den vor 15 Jahren auf Vinyl schlicht nicht existenten Mainstream-Produkten (Justin Bieber!) mehr als ausgelastet sind, müssen unabhängige Labels, die früher deren beste Kunden waren, manchmal Monate auf einen Herstellungstermin warten.

    Maag: Tiefe und Qualität fehlt

    Zum Ärger mancher Händler lassen sich einige negative Entwicklungen auch am „Record Store Day“ ablesen. Im Vergleich zu früheren Jahrgängen gibt es ein Vielfaches von Veröffentlichungen, „aber die Tiefe und Qualität fehlt“, beklagt Plattenhändler Maag. Die speziellen Angebote für den Vinyl-Feiertag bestehen zu einem großen Teil aus schick aufgemachten und künstlich verknappten Neuauflagen aus dem Back-Katalog der Major-Labels (unter anderem von Prince, David Bowie und Motörhead) – oder aus solchen Titeln, die sowieso auf dem Release-Plan stehen.

    Exklusiv ist da oft nur der bisweilen happige Preis. Trotzdem begrüßt Händler Maag, dass es den „Record Store Day“ gibt. „Die Grundidee ist komplett richtig.“ Denn bei aller Kritik: Dass sich heute wieder mehr Menschen für die gute alte Schallplatte begeistern, ist auch für ihn zunächst einmal erfreulich, und der heutige Samstag dürfte ihm und vielen seiner Händlerkollegen willkommene Einnahmen bringen.

    Eher Statement als unverzichtbares Medium

    Einer Entwicklung der vergangenen Jahre kann Maag zwar nicht als Geschäftsmann, aber als Musik-liebhaber viel abgewinnen: Weil heute fast jeder Kunde schon im Internet vorgehört hat, greifen die meisten gezielt zu. „Die Leute nehmen fast nur noch Sachen mit, die sie wirklich mögen.“ Die Platte hat für viele dieser Käufer eine andere Funktion als früher: Unterwegs und zwischendurch läuft die Musik vom Smartphone oder vom Tablet, aber in besonderen Momenten kommt das Vinyl zum Einsatz – wie Kerzenlicht zum Abendessen. Die Platte mit ihrem großformatigen Cover ist heute auch hipper Einrichtungsgegenstand, Werbetafel des eigenen guten Geschmacks und erschwinglicher Kunstersatz.

    Dazu passt eine Umfrage, die 2016 von der BBC veröffentlicht wurde: Sie ergab, dass nur 52 Prozent der britischen Vinylkäufer ihren Plattenspieler benutzen – und sieben Prozent gar keinen besitzen. Die Sammler von morgen können sich also auf eine große Auswahl neuwertiger Scheiben auf dem Gebrauchtmarkt freuen. Sie werden sich aber auch fragen, was das für Menschen waren, die sich 2017 eine Helene-Fischer-LP ins Regal stellten. (mit dpa)

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