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Augsburg: Dergin Tokmak: Auf Krücken nach Berlin

Augsburg

Dergin Tokmak: Auf Krücken nach Berlin

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    Akrobat auf Krücken: Bereits mit 12 Jahren fing der Augsburger Dergin Tokmak an zu tanzen.
    Akrobat auf Krücken: Bereits mit 12 Jahren fing der Augsburger Dergin Tokmak an zu tanzen. Foto: Dergin Tokmak

    Der Regen prasselt auf das Kopfsteinpflaster der Augsburger Innenstadt. Ein Tag, an dem alles grau in grau ist. Doch einer hebt sich ab: Dergin Tokmak überquert mit seinen rot-weiß gestreiften Krücken die Straße. Die langen lockigen Haare zusammengebunden, die Hose über den dünnen Beinen lässig, die Schuhe knallrot – Ton in Ton mit den Gehhilfen. Der 39-Jährige ist nicht gerade unauffällig. Er will es auch nicht sein. Im Café streifen ihn die Blicke der anderen Gäste. Der Augsburger mit türkischen Wurzeln scheint es nicht wahrzunehmen. Als er sich setzt, lehnt er die Krücken zunächst rechts und links neben sich an die Sitzbank. Sie gehören zu ihm und seiner Körperbehinderung. Denn sie haben Tokmak zu dem gemacht, der er heute ist. Zum Artisten, Akrobaten, Tänzer.

    Nur Minuten später steht Tokmak schon wieder auf. „Ich bestelle uns schnell was“, sagt er, klemmt die Krücken unter die Arme und geht zur Theke. Zurück am Tisch legt er den Kapuzen-Pullover ab. Seine muskulösen Oberarme kommen zum Vorschein – sein Kapital. Mit ihnen kompensiert er das, was seine Beine nicht leisten können.

    RTL-Supertalent reduzierte Tänzer auf seine Behinderung

    Es ist eineinhalb Jahre her, dass er damit ein Millionen-Publikum beeindruckte und mit seiner Geschichte zu Tränen rührte. Bei der RTL-Fernsehshow „Supertalent“ kam Tokmak bis ins Finale. „Das war eine Mords-Werbung“, sagt er stolz. Es war sein großer Durchbruch in der Medienwelt. Doch der Preis war hoch: Der heute 39-Jährige wurde dabei auch auf seine Behinderung reduziert. Ein Korsett, in das er sich nicht zwängen lassen wollte. „Die wollten natürlich diese dramatische Geschichte“, sagt er und blickt auf seinen Kaffee.

    Er spricht ruhig und bedächtig, wird aber deutlich schneller, als er über diese Zeit erzählt. Zeitungen, Fernsehsender und Fans wollten unbedingt etwas abhaben. Vom Tänzer auf Krücken – aber nicht unbedingt von Dergin Tokmak. „Am Anfang war das sehr stressig. Überall kamen Leute auf mich zu und wollten Fotos machen.“

    Tänzer auf Krücken will nach New York zum Broadway

    Inzwischen ist das Interesse abgeflaut. Für den Optimisten ist das kein Grund zur Trauer: „Ich bin froh, wenn ich mein Privatleben ausleben kann.“ Außerdem sei er medial immer noch gut vertreten. Und nicht nur dort, auch auf der Bühne. Gerade packt er die Koffer für einen mehrmonatigen Aufenthalt in Berlin. Die Varieté-Show „Culti Multi“ im Wintergarten hat den Tänzer engagiert. „Varieté wollte ich schon immer mal machen“, sagt er. Seine Augen leuchten. Wie immer, wenn er über seine Leidenschaft spricht – Tanzen.

    Auch mit dem Friedrichstadt-Palast stehe er in engem Kontakt, doch ein Jahresvertrag sei ihm derzeit zu viel. „Mein Wunsch war immer, in New York in einer Broadway-Show aufzutreten“, erzählt er und nimmt einen Schluck aus seiner Tasse. Dann fährt er fort: „Aber dazu müsste ich mich wieder binden.“ Kein Thema zurzeit.

    Augsburger Krücken-Akrobat möchte seine Biographie in ein Theater bringen

    Momentan, sagt er, sind ihm kürzere Engagements einfach lieber. Er habe noch die Energie, unter eigenem Namen etwas zu machen, sagt er. So wird Tokmak wahrscheinlich bei der französischen Profi-Tanzshow „Beat the best“ auftreten und außerdem zu Gast bei einer Talentshow in Moskau sein.

    Bei der Frage, ob er nicht auch an körperliche Grenzen stoße, blickt er irritiert auf. Ganz so, als hätte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht. „Ich tue es einfach. Ich gehe an alles mit ganzer Leidenschaft ran und probiere es.“ Ein besonders großer Traum bleibt ihm dabei noch. „Ich möchte meine Biografie in ein Theater bringen“, sagt Tokmak. Und wieder leuchten seine Augen. Als Musical könne er sich das gut vorstellen. „Aber ich möchte dann im Hintergrund bleiben, vielleicht als Regisseur.“

    Vom Backgroundtänzer zu internationalem Erfolg: Dergin Tokmak

    Er sagt, er will die Menschen inspirieren mit seiner Geschichte, die zwar aus Dramatik, aber noch aus viel mehr Optimismus und Lebenswillen besteht. Dabei hat Dergin Tokmak nicht die besten Startbedingungen. Er ist erst acht Monate alt, als er bei einem Türkei-Urlaub starkes Fieber bekommt. Diagnose: Polio, Kinderlähmung. Seine Beine entwickeln sich nicht richtig. „Mein linkes Bein ist sehr stark betroffen, deshalb habe ich dort eine Orthese.“

    Das hält ihn nicht davon ab, mit zwölf Jahren das Tanzen zu beginnen. Von seinem Cousin lernt Tokmak die ersten Breakdance-Bewegungen. Als 17-Jähriger geht er bereits heimlich als Background-Tänzer auf Deutschlandtour. Es ist sein Traum, sein Leben – schon damals. Dann engagiert ihn der berühmte Zirkus „Cirque du Soleil“. Als ersten Deutschen überhaupt. Und schließlich: die Fernsehshow.

    Die Kaffeetasse ist inzwischen leer. Tokmak steht auf, geht zum Tresen und bezahlt. Wieder streifen ihn die Blicke der Gäste. Draußen prasselt immer noch der Regen auf das Kopfsteinpflaster. Alles grau in grau. Bis ein Mann mit rot-weißen Krücken und roten Schuhen die Welt ein bisschen farbenfroher und optimistischer macht.

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