Herr Settele, Nachrichten über Naturzerstörung und Artensterben schaffen es kaum noch auf die Titelseiten. Warum ist das Ergebnis der Weltartenschutz-Konferenz so bedeutend?
Josef Settele: Historisch wichtig ist erst einmal, dass wir uns in einem großen Team aus Wissenschaft und Politik einigen konnten auf diesen Text. Der Bericht ist ein gemeinsames Dokument der 132 beteiligten Regierungen und der wissenschaftlichen Community. Das hat ein anderes Gewicht. Die großen Staaten, USA, China, Russland, die waren alle dabei. Jetzt kann keiner mehr sagen, wir haben es nicht gewusst. Das ist ein Prozess, der die ganze letzte Woche ging und auch mit wenig Schlaf verbunden war. In der letzten Nacht haben wir bis morgens um drei verhandelt. Es war für mich überraschend, dass viele Dinge, die wir drinhaben, etwa die Abkehr vom Bruttosozialprodukt als Maß aller Dinge beim Wachstum oder die Abkehr von bestimmten Subventionen in der Agrarpolitik, auch von allen akzeptiert worden sind.
Oft zitiert wurde in der Vergangenheit die Aussage, wir befänden uns mitten im größten Massenaussterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier. Hat das Ihr Bericht bestätigt?
Settele: Ja. Was wir derzeit erleben, ist global der größte Rückgang an Arten, die wir verlieren oder eine starke Gefährdung erfahren, seit der Mensch überhaupt existiert und Einfluss nimmt. Und das meiste davon ist auch menschlich bedingt. Gewisse Organismengruppen sind fast schon komplett weg, Korallen zum Beispiel. Dann haben wir sehr starke Beeinträchtigungen der Ökosystemfunktionen und -leistungen, die wir als Menschen nutzen oder von denen wir abhängig sind. Bestäubung, Schädlingskontrolle, Wasserreinigung oder das Speichern von Kohlenstoff – alles Dinge, die sehr stark mit funktionierenden Ökosystemen zusammenhängen.
Sie sagen, der Mensch ist verantwortlich dafür – inwiefern?
Settele: Wir haben fünf Haupttreiber für diese Entwicklung. Nummer eins ist die veränderte Land- und Meeresnutzung. Darunter fällt nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch Forstwirtschaft und Urbanisierung. Dann folgen die direkte Ausbeutung, sprich Holzeinschlag, Jagd und bei der Fischerei die Entwicklung hin zu großen Flotten, die die Meere leeren. Der dritte Faktor ist der Klimawandel, der wird in der Bedeutung aber noch deutlich steigen. Dann kommt die Umweltverschmutzung, Plastikmüll im Ozean etwa. Und als fünftes kommen die Probleme durch invasive Arten.
Gibt es Regionen der Welt, die besonders betroffen sind?
Settele: Wenn man die Artenrückgänge prozentual betrachtet, sind die Tropen immer vorne dran, weil es da viele Arten gibt, die es nur in kleinen Regionen gibt, nur in Regenwäldern zum Beispiel. Sind die Wälder weg, sind die Arten weg. Das ist bei uns nicht ganz so einfach und direkt, weil wir ja viele Arten haben, die weit verbreitet sind. Die meisten unserer Kulturlandschaftsarten kommen vereinfacht gesagt fast in ganz Europa vor, manche sogar bis nach Zentralasien. Das heißt, da ist der Artenschwund weniger der Schwund einer Art als Ganzes, sondern mehr der lokale Schwund von Arten – der Rückgang von Vielfalt auf der Fläche, was wir bei uns ganz stark haben. Das sind zwei ganz verschiedene Systeme.
Wie lässt sich der Schwund stoppen?
Settele: Wenn es bei uns in Richtung Gegenmaßnahmen geht, wird häufig in Richtung Schutzgebiete argumentiert. In den Tropen ist, sobald ich ein Schutzgebiet unter relativ geringem Einfluss von Menschen habe, ziemlich viel erreicht in Sachen Artenschutz. Mache ich bei uns ein Schutzgebiet und überlasse es sich selber, dann wird es artenärmer, da wir von Natur aus eigentlich eine eher artenarme Natur hatten. Unsere Landschaft ist geprägt durch die lange menschliche Nutzung, Stichwort Kulturlandschaft. Ähnliches gibt es auch in Asien und Südamerika. Diese Vielfalt kann man nur aufrecht erhalten, indem man weiterhin ein Management betreibt. Das heißt, der Spagat ist zwischen kompletter Nutzungsaufgabe und zu intensivier Nutzung.
Welche Fragen sind noch offen?
Settele: In Richtung Umsetzung etwa, wie man Maßnahmen zum Artenschutz und zur Milderung des Klimawandels unter einen Hut bringen kann. Wenn ich große Flächen brauche für Biokraftstoffe, habe ich natürlich keine Fläche für die Landwirtschaft und keine für den Schutz von Arten. Wenn ich es aber nicht mache, habe ich mehr Klimawandel. In der Richtung brauchen wir noch mehr Analysen. Aber viel wichtiger ist etwas anders.
Und zwar?
Settele: Zum Artensterben und wie es gebremst werden könnte, wissen wir vieles längst. Aber die Frage stellt sich: Warum wird das nicht umgesetzt? Da ist noch sehr viel Potenzial für die Sozialwissenschaften: Wie kann ich dazu kommen, dass die Akteure so agieren, wie es eigentlich vernünftig wäre? Da gibt es viele Dinge, die dazukommen: Interessenskonflikte, Wissenslücken, die man hat oder ökonomische Zwänge, die man glaubt zu haben. Das ist ein Forschungsfeld, an das man nicht gleich denkt beim Thema Biodiversität.
Was halten Sie von Projekten, bei denen versucht wird, Pflanzen und Tiere in Genbanken zu erhalten?
Settele: In Spitzbergen, beim bekanntesten Projekt dieser Art, geht es primär um die Kulturpflanzenvielfalt, von Reis, Kartoffeln bis Tomaten ist da alles mit dabei. Es bringt schon was, die Vielfalt zu erhalten. Aber die Arten müssen auch regelmäßig angebaut werden, da sonst die Keimfähigkeit der eingelagerten Samen verloren geht. Das heißt, die Genbank allein reicht nicht, man muss sie auch nutzen. Dennoch hat man das Problem, dass, wenn man diese Pflanzen über viele Jahre hinweg im geschlossenen System einer Genbank anbaut, sie nicht unter dem Evolutionsdruck stehen wie in der Natur. Das heißt, die Vielfalt geht nach und nach auch verloren. Dennoch ist es eine Methode, um Zeit zu gewinnen, um gewisse Sorten zu erhalten.
Der Wert der Natur wird heute oft in Geld ausgedrückt, um ihre Erhaltung zu rechtfertigen. Muss das sein?
Settele: Das ist nicht zwangsläufig so. Es gibt ein paar gute Werte für die Bestäubung, was diese Dienstleistung der Natur für die Landwirtschaft wert ist. Aber Natur rein monetär auszudrücken, wird der Sache nicht gerecht. Bürgerrechte etwa kann man auch nicht monetarisieren. Dennoch ist es ein Tabu, sie anzutasten. Genau dahin müssen wir auch in Bezug auf die Artenvielfalt kommen, sie nicht zu sehr anzutasten, ob man sie ökonomisch ausdrücken kann oder nicht.
Zur Person: Josef Settele ist Biologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung mit Schwerpunkten Insekten und Biodiversität.