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Interview: Angst, Alkohol, Aufstand: Was macht Corona mit der Jugend?

Interview

Angst, Alkohol, Aufstand: Was macht Corona mit der Jugend?

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    Jugendlichen fällt es schwer, sich an den neuen Alltag in der Corona-Pandemie zu gewöhnen.
    Jugendlichen fällt es schwer, sich an den neuen Alltag in der Corona-Pandemie zu gewöhnen. Foto: Florian Gaertner, dpa

    In der Corona-Krise hat sich für viele junge Menschen der Alltag grundlegend verändert. An freier Zeit mangelt es aktuell nicht, dafür an sozialen Kontakten und Freiheiten. Frau Noterdaeme, was bedeutet es für Jugendliche, wenn das Leben auf einmal nicht mehr wie gewohnt stattfinden kann?

    Michele Noterdaeme: Ich denke, dass diese neue Freizeit ganz unterschiedlich auf Jugendliche wirken kann. Während die einen es genießen, nicht in die Schule zu müssen, fällt für andere ein wichtiges soziales Umfeld weg. Einerseits gibt es auf einmal keinen Leistungs- und Lerndruck mehr, die Angst vor dem Scheitern und die Frustration darüber fallen weg, dafür fehlen Kontakte zu Mitschülern, Freunden und Lehrern.

    Reagieren alle jungen Menschen mit demselben Verhalten auf die Corona-Krise?

    Noterdaeme: Wie gut junge Menschen klarkommen, hängt sehr stark vom häuslichen Umfeld ab. Bekommen sie die finanziellen Sorgen der Eltern mit oder gehören Familienmitglieder zur Risikogruppe, verstärkt das ihre Angst in der Corona-Krise. Auch die Informationsflut, der Jugendliche seit Beginn der Pandemie Tag für Tag ausgesetzt sind, kann sich negativ auf ihre Gefühlslage auswirken. Für viele von ihnen ist es nicht einfach, die für sie relevanten Informationen heraus zu filtern.

    Verschiedenen Studien zufolge sollen Social-Distancing-Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen junge Menschen stärker belasten. Welche Ursachen kann das haben?

    Noterdaeme: Angst und Unsicherheit dominieren bei vielen Jugendlichen im Moment den Alltag. Wer sich mit dem Virus ansteckt, kann auch die Familie infizieren — davor fürchten sich viele. Wenn sich junge Menschen folglich aus ihrem sozialen und familiären Umfeld zurückziehen, kann das schnell zu einer traurigen Stimmung oder gar einer Depression führen. Auch den Verlust von einfachen Bewegungs- und Ausgleichsmöglichkeiten bekommen viele in der Corona-Krise aktiv zu spüren. Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und Gereiztheit können die Folge sein. Besonders einige ältere Jugendliche greifen deshalb oft zu Alkohol, in der Hoffnung diese Spannungen damit zu lösen.

    Kann Rückhalt und Unterstützung aus der Familie in dieser Zeit helfen?

    Noterdaeme: Das hängt sehr stark vom jeweiligen familiären Umfeld und den Strukturen zu Hause ab. Ich kenne viele Familien, die in dieser Zeit Großartiges geleistet haben. Sie haben sich große Mühe gegeben, um ihren Kindern etwas anzubieten. Fakt ist natürlich, dass finanziell bessergestellte Familien das leichter umsetzen können. Alleinerziehende, die auch in der Corona-Krise nicht ihren Job verloren haben und weiter zur Arbeit durften, stehen da vor anderen Herausforderungen. Generell kann die zusätzliche Zeit innerhalb der Familie aber als Chance verstanden werden. Zumindest dann, wenn die Beziehung zueinander schon vor der Pandemie stimmig gewesen ist.

    Warum fällt es vielen Jugendlichen inzwischen so schwer, sich an die neuen Corona-Regeln zu halten?

    Noterdaeme: Am Anfang der Pandemie hat die Angst uns sehr stark zusammengeschweißt. Wer sich an die neuen Regeln gehalten hat, konnte andere schützen. Nun rückt das Eigenbedürfnis wieder verstärkt in den Vordergrund. Der Wunsch nach sozialen Kontakten ist nachvollziehbar und natürlich. Viele Jugendliche sind aber dennoch weiterhin vorsichtig und zeigen sich verantwortungsbewusst. Gemeinsame Aktivitäten wie Sport sind auch mit Abstand möglich. Generell zeigt mir meine Erfahrung, dass viele Jugendliche die neue Realität akzeptiert haben. Wichtig ist es, sich Zeit für die Jugendlichen zu nehmen, um ihnen die Maßnahmen zu erklären und ihre Ängste auszuräumen.

    Prof. Noterdaeme leitet die Kinder- und Jugendpsychatrie im Vincentinum in Augburg.
    Prof. Noterdaeme leitet die Kinder- und Jugendpsychatrie im Vincentinum in Augburg. Foto: Noterdaeme

    Immer mehr junge Menschen fühlen sich in ihrer Freiheit beschränkt und machen ihrem Ärger bei Corona-Demonstrationen Luft. Wie ist das zu bewerten?

    Noterdaeme: Rebellion und Widerstand gegen Regeln und Einschränkungen durch die Eltern oder Gesellschaft sind in der Pubertät eine ganz normale Entwicklung. Das muss nicht immer negativ sein, sondern dient auch der Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen. Bei den Corona-Protesten ist es eine Gratwanderung, so zu rebellieren, dass andere durch das Verhalten nicht gefährdet werden. 

    In der Corona-Krise wurden verstärkt Fälle von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Kinder- und Jugendliche gemeldet. Steigt das Aggressionspotenzial in einer solchen Situation automatisch?

    Noterdaeme: Aggressionen entstehen vermehrt immer dort, wo es sie schon im Vorfeld gegeben hat. Eine Krise verschärft das Potenzial. Dass wir in bestimmten Situationen eine aggressive Stimmung bei uns wahrnehmen, ist ganz natürlich. Es kommt nur darauf an, wie wir mit diesem Reiz umgehen: Ob wir uns mit Bewegung abreagieren können oder über körperliche Gewalt und Zerstörung von Gegenständen reagieren.

    Ist die Hemmschwelle gesunken, sich in der Corona-Krise Hilfe zu suchen?

    Noterdaeme: Wer an einem Punkt ankommt, an dem es nicht mehr weitergeht, muss sich Hilfe suchen. Während sich Erwachsene in Not deutlich schwerertun, Hilfe in Anspruch zu nehmen, fällt es Jugendlichen tendenziell leichter. In der Corona-Pandemie kommt außerdem dazu, dass viele Menschen vor denselben Problemen stehen. Es ist also keine Schande sich an eine Beratungsstelle zu wenden.

    Was kann Jugendlichen dabei helfen den Alltag mit Corona zu meistern?

    Noterdaeme: Langeweile ist besonders für jüngere Menschen in dieser Zeit ein großes Problem. Wenn neben Schule und Universität auch Freizeit- und Sportmöglichkeiten sowie soziale Kontakte wegfallen, geht auch ein Stück Normalität verloren. Eigene Routinen können aber dabei helfen Struktur in den Tag zu bekommen. Jugendliche sollten sich fragen, wie sie es schaffen können positive Elemente in ihren Alltag einzubauen. Helfen kann dabei beispielsweise die Webseite der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU Klinikums München und der Beisheim Stiftung, die hilfreiche Antworten und Orientierung gibt.

    Prof. Michele ist Chefärztin in der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie am Vincentinum in Augsburg. In ihrer Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München beschäftigte sich die Medizinerin mit autistischen Störungen. Anschließend wurde sie zur Professorin an der LMU berufen.

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