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Andrea Kümpfbeck vor Ort: Versunken im Schlamm - eine Reportage aus Pakistan

Andrea Kümpfbeck vor Ort

Versunken im Schlamm - eine Reportage aus Pakistan

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    AZ-Redakteurin Andrea Kümpfbeck berichtet aus Pakistan. Bild: Grossmann
    AZ-Redakteurin Andrea Kümpfbeck berichtet aus Pakistan. Bild: Grossmann

    Bevor das Wasser kam, hatte Saeedur Rahman eine kleine Herde Ziegen, zwei Büffel, ein Haus aus Lehm und genug zu essen. Jetzt lebt der Bauer mit seiner Frau und den vier Kindern auf der Autobahn. Mit ein paar schiefen Ästen und einer weißen Plastikplane hat er seiner Familie auf dem Mittelstreifen ein Zelt gebaut.

    Kilometer über Kilometer ziehen sich diese notdürftigen Behausungen auf der sechsspurigen Autobahn zwischen Islamabad und Pershawar dahin. 2 000 Menschen haben sich in der Nacht, als die große Flut kam, auf die höher gelegene Straße geflüchtet. Unten, in der Ebene des Bezirks Nowshera, hat der Fluss alles mitgerissen, was sich ihm in den Weg stellte.

    Der hochgewachsene Mann verbirgt seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille. Sie sind rot unterlaufen und dick geschwollen, er hat hohes Fieber. "Wir haben kein Wasser", klagt der 38-Jährige - nur diese brackige, stinkende Brühe, die alle Brunnen verseucht hat und in Form von kleinen Seen immer noch in den Feldern steht. Moskito-Schwärme fliegen auf, ein paar Kinder plantschen wild herum, ihnen macht das Wasser Spaß. Mit dem müssen die Flüchtlinge auch sich und die paar Kleider waschen, die sie noch am Leib tragen.

    "Wir haben nichts mehr", sagt Saeedur Rahman und schiebt das Stück Vorhang zur Seite, das der Eingang ist in sein Notzelt. Ein Plastikeimer liegt darin, ein halber Sack Mehl, eine Decke, auf der nachts die ganze Familie schläft. "Wir konnten nichts mitnehmen, als uns die Polizei mit Lautsprechern vor dem Fluss warnte", sagt Saeedur Rahman - nur die beiden Töchter, die fünf und drei Jahre alt sind, und die Söhne mit sechs Jahren und neun Monaten.

    Der braune Schlamm liegt wie eine Grabplatte auf den Feldern

    Seine Frau und die Kinder sind gerade dort, wo einmal ihr Haus stand. Gut zwei Kilometer ist das entfernt. Mit den bloßen Händen gräbt die Familie im Schlamm nach den Resten ihres bescheidenen Besitzes. Saeedur Rahman kann ihnen im Moment dabei nicht helfen, er ist zu schwach. Sein Sohn Gul hat den Teppich wiedergefunden, er hatte sich ein paar hundert Meter weiter im Gebüsch verfangen. Auch einige Teller und den Topf, in dem sie das Wasser kochen, konnte der Sechsjährige aus dem Schlamm ziehen.

    "Mehr haben wir nicht mehr", sagt Saeedur Rahman. Keine Kleider, kein Essen, kein Geld. Die paar Ziegen, die nicht ertrunken sind, verhungern gerade. Sie finden kein Gras mehr in der Ebene, die von einer meterdicken Schlammschicht überzogen ist. Der braune Schlamm trocknet in der Sonne, bekommt tiefe Risse. Er liegt wie eine schwere Grabplatte auf den Feldern. Eine Ernte im Wert von mehreren Milliarden Dollar ist zerstört, jeder Zweite hat seine Arbeit verloren.

    Vier Wochen sind seit Beginn der Katastrophe vergangen, die sich langsam, ganz langsam durch Pakistan zieht. Immer noch drohen neue Flutwellen, lassen neue Regenfälle die Flüsse über die Ufer treten, brechen Dämme. Und während im Süden auf Anordnung der Behörden gerade eine halbe Million Menschen ihre Häuser verlassen müssen, weil sich die braunen Wassermassen jetzt durch die Provinz Sindh fressen, ist im Norden das Wasser inzwischen abgeflossen. Langsam wird sichtbar, welch ungeheure Schäden die Flutwellen angerichtet haben, die Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon einen "Tsunami in Zeitlupe" nennt.

    Das Land ist im Schlamm versunken, ganze Dörfer sind weggespült, jahrhundertealte Lehmbauten einfach umgefallen. Rund eine Million Häuser sind verschwunden oder unbewohnbar, auch 5500 Schulen sind kaputt. Weitere 5000 sind von Flüchtlingen besetzt. Für sie muss schnell ein anderer Platz gefunden werden, am 15. September soll die

    Die anderen wohnen am Straßenrand, auf Friedhöfen, bei Verwandten, in Flüchtlingscamps. Manchen ist nur ein hölzernes Bettgestell geblieben, auf dem jetzt ganze Familien leben. 20 Millionen Menschen sind nach Schätzungen der UN von der größten Naturkatastrophe in der Geschichte des kriegs- und krisengeschüttelten Landes betroffen - weit mehr, als beim Tsunami entlang des Indischen Ozeans und dem Erdbeben in Haiti zusammen.

    Seilbahnen werden über reißende Flüsse gespannt

    Sechs Millionen Menschen brauchen sofort Hilfe, bei 1,8 Millionen ist die erst angekommen in dem Land, das zweimal so groß ist wie Deutschland. Eine Fläche von der Größe Italiens hat der Indus mit seinen Nebenflüssen ausgewaschen. Kein Wunder, dass es dauert, bis sich die Helfer vorkämpfen: Viele Straßen und Brücken sind weggeschwemmt, manche Dörfer können nur noch mit dem Hubschrauber oder auf dem Esel erreicht werden. Nach und nach dringt das pakistanische Militär in entlegene Orte vor.

    Soldaten stellen Schlauchboote zur Verfügung und bauen wackelige Seilbahnen über reißende Flüsse. Ohne das Militär, heißt es, wären viele Pakistaner längst verhungert.

    Die Flüchtlinge von der Autobahn werden von internationalen Hilfsorganisationen versorgt: Oxfam und die Diakonie Katastrophenhilfe haben Wassertanks aufgestellt, das Welternährungsprogramm (WFP) liefert Reis, Öl und Mehl. Hier ist die Infrastruktur perfekt, nur selten sind Flüchtlingscamps einfach über eine mehrspurige Autobahn zu erreichen.

    Saeedur Rahmans Nachbar Amir Khan kniet neben seinem Zelt auf dem Gebetsteppich, den er in Richtung Mekka ausgerichtet hat. Nackte, verschlammte Kinder springen herum, bunt bemalte Busse und hoch beladene Lastwagen rasen hupend an ihnen vorbei. Das ist kein Platz zum Leben. Ein paar Büffel liegen zwischen den Zelten im Staub. Und überall sind Fliegen, Millionen von Fliegen. Ein blasser dürrer Mann geht von Zelt zu Zelt. Sein Blick ist starr, das Gesicht versteinert. Er sucht seine Frau Tasleen, sagt er, und die vier Kinder.

    Taimos Khan war arbeiten, als Lkw-Fahrer weit weg von zu Hause, als der Fluss sein ganzes Leben mitnahm. Das Haus ist eine Ruine, seine Familie seit dem 27. Juli verschwunden. Auf den Feldern, die noch unter Wasser stehen, sucht der 36-Jährige nach den Leichen. Gefunden hat er noch keine. Neben den Männern hält ein Kleinlastwagen. Er hat ein weißes Tuch über die Motorhaube gespannt. "Allah ist groß" steht darauf.

    Der Mann hat ein paar Decken dabei, die er den Obdachlosen schenkt, einige Kisten Flaschenwasser, Kartons voller Kleidung. "Ein paar Sachen nur", sagt der Geschäftsmann aus Islamabad, die er bei seinen Verwandten und Freunden gesammelt hat. Es ist Ramadan, da geben auch die Pakistaner großzügig für ihre Landsleute.

    20 000 Rupien (knapp 200 Euro) hat die pakistanische Regierung inzwischen jeder Familie für den Wiederaufbau versprochen, sagt Rahman. Und dass er nicht glaubt, jemals auch nur eine Rupie des Geldes zu sehen. Er ist wütend auf die Regierung, wütend auf den Präsidenten, der durch Europa tourte, während sein Volk unterging.

    30 Kilometer weiter, in der Distrikt-Hauptstadt Nowshera - sie liegt zweieinhalb Stunden nordwestlich der Hauptstadt Islamabad -, sieht es aus wie nach einem Erdbeben. Mit rasender Geschwindigkeit ist der Fluss Kabul hier durch die Straßen geschossen, ganze Stadtteile der 600 000-Einwohner-Stadt waren bis zu den Dächern im Wasser verschwunden. Erste Läden öffnen in diesen Tagen wieder, der Besitzer eines Computergeschäfts schaufelt Schlamm aus seinem Laden.

    Der Eismann schiebt sein Wägelchen vorbei und wirbt mit einer monotonen Klingel-Melodie um Kunden. Viele Häuser sind nur noch Steinhaufen, andere haben löchrige Wände. Berge von Holzteilen, die einmal Möbel waren, liegen auf der Straße. Nowshera ist eine der am schlimmsten getroffenen Städte in Pakistan, hier starben 67 Menschen, die nicht schnell genug davonlaufen konnten. Und 4 000 Kühe.

    Anti-Terror-Eliteeinheit bewacht die Helfer

    Im Dorf Kheshgi Payan, nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt, sind vor ein paar Tagen bei einer Lebensmittelverteilung Schüsse gefallen. "Hier ist eine Gegend, in der es viel und oft Ärger gibt", sagt Syed Hussein von der italienischen Hilfsorganisation Cesvi. Rückzugsgebiet für Terroristen soll das Gebiet sein, Zentrum religiöser Extremisten auch. Zwischen 2500 und 5000 Menschen leben in dem Dorf, die genaue Zahl kennt keiner.

    Fast alle Häuser sind beschädigt, Hilfe ist bisher nur spärlich angekommen. Einen Arzt zum Beispiel, erzählen die Dorfbewohner, haben sie seit der Flut noch nicht gesehen. Die Deutsche Welthungerhilfe verteilt heute an 1000 Familien Decken, Eimer und Hygienesets. Wasserreinigungstabletten sind darin, ein Stück Seife, Kerzen, Durchfallmittel, Damenbinden und ein Kamm.

    Die Anti-Terror-Eliteeinheit der Polizei bewacht mit Kalaschnikows die Helfer - schwarz gekleidete, durchtrainierte Männer mit dunklen Sonnenbrillen, die mit dem Gewehr im Anschlag genau die Stimmung beobachten. Doch es bleibt friedlich.

    Geduldig warten die Menschen in der Schlange, bis sie an der Reihe sind. Azra Bibi ist die Nummer 68. Zusammen mit ihren drei Schwestern, die wie sie unverheiratet sind, hat sie in einem kleinen Lehmhaus gewohnt. Die Frauen sind Außenseiterinnen im Dorf und bitterarm, der Bruder muss sie mitversorgen. Einen Mann hat keine von ihnen, weil die Eltern früh gestorben sind. Es war dann niemand mehr da, der sie verheiratet hätte.

    Ihr Haus ist davongeschwommen mit der großen Welle, sagt Azra Bibi. Und mit ihm ihre wenigen Habseligkeiten. Nicht einmal mehr Schuhe, sagt Azra Bibi, sind ihr geblieben. Das ausgetretene Paar Plastik-Schlappen, das sie jetzt trägt, hat ihr ein Fremder geschenkt. Dankbar nimmt Azra Bibi die Decke entgegen und den Karton, quittiert die Gabe mit dem Abdruck ihres rechten Daumens auf der Verteilerliste. "Für mein neues Leben", sagt die 47-Jährige. Und fügt dann leise hinzu: "Danke, dass ihr da seid."

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