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Analyse: "An" oder "mit" dem Virus: Wie viele Menschen sterben durch Corona?

Analyse

"An" oder "mit" dem Virus: Wie viele Menschen sterben durch Corona?

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    Die Zahl der Todesfälle von Personen, die laborbestätigt an Covid-19 erkrankt waren, steigt von Woche zu Woche.
    Die Zahl der Todesfälle von Personen, die laborbestätigt an Covid-19 erkrankt waren, steigt von Woche zu Woche. Foto: Murat, dpa (Archiv)

    Als sie sich in der Generaldebatte im Bundestag vor einer Woche in ungewohnt emotionaler Weise für schärfere Corona-Maßnahmen aussprach, trieben Angela Merkel auch die hohen Todeszahlen um. Die Kanzlerin war den Tränen nahe. Noch vor ihrer Rede hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) am Morgen einen bis dato traurigen Rekord vermeldet: 590 neue Corona-Tote waren dem Institut innerhalb eines Tages gemeldet worden. „Nicht akzeptabel“ sei das, sagte die Kanzlerin daraufhin im Bundestag. Doch genau eine Woche später folgte der nächste Rekord. 952 Tote meldete das RKI am 16. Dezember.

    Die Zahl der Todesfälle ist zum Gradmesser in dieser Pandemie geworden: Welche Maßnahmen ergriffen oder unterlassen werden, immer steht die Frage im Raum, wie viele Tote die Gesellschaft dafür bereit ist, in Kauf zu nehmen. Keine andere Zahl fasst das Leid dieser Pandemie besser zusammen. 952 Corona-Tote bedeuten: 952 Mal verliert jemand die eigene Oma, den Opa, den Vater, die Mutter, den Sohn, die Tochter, die Partnerin oder den Partner. Gleichzeitig ist sie aber auch ein umstrittener Indikator: Wann zählt ein Verstorbener überhaupt als Corona-Toter? Ist die Person „an“ oder nur „mit“ dem Virus gestorben? Es lohnt sich also, diese Zahl genauer anzuschauen.

    Corona-Todesfälle: Wie zählt das RKI?

    Zunächst zur Zählweise: In seinem Lagebericht veröffentlicht das RKI täglich die Zahl der Corona-Toten. Diese Zahl sagt aber zunächst nichts über das Sterbedatum der Menschen aus, sondern lediglich, dass sie dem RKI im Vergleich zum Vortag neu gemeldet wurden. In diese Statistik gehen dann all jene Verstorbenen ein, bei denen ein Labor eine Infektion mit SARS-CoV-2 nachgewiesen hat und die in Bezug auf diese Infektion gestorben sind. Ob die aber alle „an“ oder einige nur „mit“ dem Virus gestorben sind, ist nicht klar. Die genaue Todesursache ist laut RKI in der Praxis schwierig zu bestimmen.

    Das gelingt eigentlich nur durch eine Obduktion. Der Bundesverband Deutscher Pathologen hat daher zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Pathologie sowie der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie Daten gesammelt. Die Wissenschaftler konnten auf Ergebnisse aus 154 Obduktionen zurückgreifen und stellten fest: „In mehr als drei Viertel der Obduktionen konnte die COVID-19-Erkrankung als wesentliche oder alleinige zum Tode führende Erkrankung dokumentiert werden.“ 82 Prozent der Obduzierten erfüllten demnach die Kriterien eines positiven Tests und wiesen Organschäden auf, die typisch für Covid-19 sind und die die Pathologen als Todesursache werteten.

    Diese Erkenntnis ähnelt den Daten, die das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) angibt. Demnach liegen, Stand 18. Dezember, bei 92 Prozent der Corona-Fälle in Bayern Informationen zur Todesursache vor. Von den betreffenden Toten seien laut LGL wiederum 88 Prozent an Covid-19 gestorben und 12 Prozent an einer anderen Ursache. Die allermeisten Corona-Toten gehen also auch wirklich auf das Konto des Virus. Aber sterben durch Corona auch mehr Menschen?

    Hier kommt ein Begriff ins Spiel, von dem derzeit häufiger die Rede ist: die sogenannte Übersterblichkeit. Von Übersterblichkeit spricht man, wenn die Sterbefallzahlen in einer Krisensituation über dem Niveau der Sterberate außerhalb dieser Krisensituation liegen. Vereinfacht gesagt: Es sterben mehr Menschen als normal.

    Die Zahl der Toten in Deutschland schwankt von Jahr zu Jahr

    Aber was bedeutet „normal“ in diesem Zusammenhang? 2019 starben in Deutschland 939.520 Menschen, das macht etwa 2574 Tote pro Tag. In mehr als einem Drittel der Fälle sind Herz-/Kreislauferkrankungen für das Ableben verantwortlich, 3059 Menschen sind 2019 etwa bei Unfällen im Straßenverkehr ums Leben gekommen. Aber die Zahl der Toten in Deutschland schwankt von Jahr zu Jahr. Im Winter 2017/2018 fiel die Grippewelle zum Beispiel besonders hart aus und ließ die Sterbefallzahlen in die Höhe steigen.

    Wissenschaftler des Statistischen Bundesamtes benutzten daher den Durchschnitt aus den Jahren 2016 bis 2019, um die Übersterblichkeit in der Corona-Pandemie zu ermitteln. In einer Sonderauswertung haben sich die Statistiker aus Wiesbaden der Frage gewidmet, wie sich die Corona-Pandemie auf die Sterbefallzahlen auswirkt.

    Vor allem im Frühjahr während der ersten Corona-Welle beobachteten sie „durchgehend und deutlich erhöhte Sterbefallzahlen im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019.“ Zwischen dem 6. und 12. April starben 14 Prozent mehr Menschen als im Durchschnitt der vergangenen vier Jahre. Und im gesamten April lag die Zahl der Gestorbenen mit zehn Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre. „Die Erhöhung der Sterbefallzahlen passt zu den Covid-19-Todesfällen“ sagt Felix zur Nieden, der als Experte für Demografie und Sterbefallzahlen am Statistischen Bundesamt arbeitet und an der Auswertung mitgearbeitet hat.

    Nach dem Höhepunkt im April pendelte sich die wöchentliche Sterbefallzahl wieder rund um den Durchschnitt der Vorjahre ein. Ob das mit den getroffenen Maßnahmen zusammenhängt, kann zur Nieden aber nicht sicher beantworten: „Wir wissen ja nicht, wie es ohne die Maßnahmen gelaufen wäre“.

    Der Anstieg des Todeszahlen im August hat einen anderen Grund

    Im August gab es eine weitere Auffälligkeit: Die wöchentliche Sterbefallzahl lag in der 33. Kalenderwoche 20 Prozent über dem Wert der Vorjahre. Damals waren die Infektionszahlen aber niedrig. Von Corona-Toten sprach kaum jemand. Auch die Statistiker vermuten hinter dem Anstieg einen anderen Auslöser: die Hitzewelle 2020.

    Mitte November, als die zweite Welle über das Land hereinbrach und der Lockdown light bereits in Kraft war, notierten die Statistiker für die 46. Kalenderwoche 19.161 Tote – acht Prozent mehr als im Durchschnitt der Vorjahre. Seither stagnieren die Infektionszahlen auf hohem Niveau. Das RKI meldete am 16. Dezember 952 Tote. Einen Tag später waren es 698 und darauf 813 Tote. "Für die zweite Welle deutet sich eine ähnliche Entwicklung wie zu Beginn der ersten an", schlussfolgert zur Nieden.

    Allerdings lassen sich die Auswirkungen der zweiten Welle auf die gesamten Sterbefallzahlen bislang nur in Ansätzen quantifizieren. Mit Blick auf die erste Welle kommen zur Nieden und seine Mitautoren aber zu dem Schluss, „dass die Corona-Pandemie in Deutschland bisher vergleichsweise geringe Auswirkungen im Hinblick auf eine etwaige Übersterblichkeit hatte.“ Ein Zusammenhang zwischen hohen Sterbezahlen und der Zahl der Corona-Toten liege zwar nahe, gleichwohl hätten die Todesfälle durch Corona aber noch nicht die Dimension der Grippewelle 2018 erreicht.

    Erste Corona-Welle: Was wäre ohne Lockdown passiert?

    Dass das Virus aber ungefährlich oder weniger gefährlich als die Grippe sein könnte, weisen die Wiesbadener Statistiker zurück. Vielmehr deute die Entwicklung in Deutschland daraufhin, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hierzulande „vergleichsweise effizient eingesetzt wurden.“ Im Fachmagazin Nature veröffentlichten Wissenschaftler im Juni einen Artikel, der der Frage nachging, wie sich die Pandemie ohne einschränkende Maßnahmen entwickelt hätte.

    Für Deutschland zählten sie von Beginn der Pandemie bis zum 4. Mai insgesamt 6831 Corona-Tote. Wären keine Maßnahmen getroffen worden und hätte sich das Verhalten der Menschen überhaupt nicht geändert, schätzen die Wissenschaftler anhand ihres Modells die Todeszahlen auf einen Bereich zwischen 370.000 und 780.000 bis zum 4. Mai 2020.

    Für die These der wirksamen deutschen Lockdown-Maßnahmen spricht auch der Vergleich mit anderen europäischen Ländern: Frankreich verzeichnete beispielsweise für die Monate März und April 2020 eine Sterblichkeit, die 26 Prozent über dem Wert von 2019 und 16 Prozent über dem Wert von 2018 liegt. Die Statistik-Kollegen aus Italien berichteten von einer Sterbefallzahl, die im März 2020 49 Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019 lag.

    Die Maßnahmen des ersten deutschen Lockdowns scheinen also ins Ziel getroffen zu haben. Der Umkehrschluss legt aber nahe, dass angesichts hoher Neuinfektionszahlen und der täglich gemeldeten Todeszahlen die Maßnahmen der Politik während der zweiten Welle ihre Wirkung zumindest teilweise verfehlen. Der Statistik-Professor Göran Kauermann von der LMU in München argumentiert in diese Richtung.

    Warum sind die Sterbezahlen zurzeit so hoch?

    Nach seiner Untersuchung hat der November-Lockdown zwar dazu beigetragen, die Zahl der Neuinfektionen zu senken. "Allerdings nicht für die Ältesten". Bei der Gruppe der Über-85-Jährigen ist der Anstieg der Neuinfektionen weiterhin hoch. Die Hochbetagten sind auch die einzige Bevölkerungsgruppe, für die Kauermann eine "leicht erhöhte Sterblichkeit" feststellt. Und das auch wenn man berücksichtigt, dass der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung in den letzten Jahren stetig gestiegen ist, mehr Todesfälle also zwangsläufig die Folge sind.

    Die Untersuchung der Todeszahlen nach Altersgruppen zusammen mit dem Infektionsgeschehen der vergangenen Wochen könne demnach erklären, warum die Sterbezahlen derzeit so hoch sind. Gleichzeitig werde dabei offensichtlich, was die Politik versäumt hat: Die Hochrisikogruppen effektiv zu schützen. Kauermann kritisiert das: "Es zeigt sich, dass wir ein Problem im Bereich der älteren Bevölkerung haben. Und das schreit eigentlich danach, bei allen Maßnahmen zu schauen, ob sie für diese Gruppe zielgerichtet wirken."

    Die Politik ziele mit ihren Maßnahmen aber auf die gesamte Breite der Bevölkerung. Das sei durchaus legitim, meint Kauermann, aber es bräuchte mehr Schutz für die Alten. An dieser Stelle fehlt es seiner Meinung nach an einem wirksamen Konzept. Nächtliche Ausgangssperren seien wenig zielführend für die Alten, aber eben einfacher zu verhängen.

    Die Bundeskanzlerin war in der Generaldebatte am 9. Dezember schon fast am Ende ihrer Rede angelangt, da wurde sie noch einmal emotional. "Wenn wir vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben". Die beschlossenen Maßnahmen sind nun alle in Kraft. Der Politik bleibt jetzt nur noch die Hoffnung auf die Vernunft des Einzelnen. Das Ergebnis wird sich in einigen Wochen zeigen.

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