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60 Jahre Antibabypille: Segen oder Last? Warum die Pille immer noch so sehr diskutiert wird

60 Jahre Antibabypille

Segen oder Last? Warum die Pille immer noch so sehr diskutiert wird

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    Seit die Pille 1960 auf den Markt kam, beschäftigt Frauen die Frage: Nehmen oder nicht. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1976.
    Seit die Pille 1960 auf den Markt kam, beschäftigt Frauen die Frage: Nehmen oder nicht. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1976. Foto: Bettmann, Getty Images

    Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da hat Babsi Böck entschieden, ein Medikament nicht mehr zu nehmen. Zehn Jahre lang hat sie es quasi täglich geschluckt. Dann hatte sie genug und ließ es weg. Heute sagt die 26-Jährige Kemptenerin: Seit sie die Tablette nicht mehr nimmt, gehe es ihr so gut wie noch nie. Das Medikament war die Pille.

    60 Jahre Pille: Warum haben Frauen heute keine Lust mehr auf die Pille?

    Wer sich ein bisschen durchs Internet klickt, Sachbuchabteilungen durchstöbert oder Youtube-Videos anschaut, der stößt schnell auf Frauen, die Ähnliches erzählen wie Babsi Böck. Sie sind pillenmüde. Haben keine Lust mehr, ihren Körper mit Hormonen vollzupumpen, nur um nicht schwanger zu werden. Genau 60 Jahre, nachdem die Pille die Sexualität revolutionierte, lehnen sie sich auf gegen das Verhütungsmittel für die Frau. Die Frage ist: Ist dieser Widerstand berechtigt oder eine Modeerscheinung?

    Vor sechs Jahrzehnten kam die Pille in den USA auf den Markt. Im Juni 1960 erhielt sie dort die Zulassung der Arzneimittelbehörde. Im August gab es die erste Pille namens Evonid zu kaufen. In der Bundesrepublik dauerte es ein Jahr länger, bis das Berliner Pharmaunternehmen Schering die Pille Anovlar auf den Markt brachte.

    Ende der 60er Jahre galt die Pille als Befreierin der Frauen

    Die Pille galt als Befreierin. Endlich konnten Frauen selbst bestimmen, ob sie schwanger wurden – und von wem. In sämtlichen Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte davor trugen Frauen beim Sex immer das Risiko, schwanger zu werden. Die Pille änderte das. Deshalb sagt Ingrid Mühlhauser, Hamburger Professorin für Gesundheitswissenschaften: "Die Pille war ein Segen. Ist es für viele Frauen immer noch." Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer beschreibt es in einem Interview aus dem Jahr 1975 so: "Als dann die Pille kam, Anfang der 60er, war das einfach uneingeschränkt eine Befreiung. Das war eine fantastische Sache. Also wir alle haben, glaube ich, mit Freunde danach gegriffen. Ein Wundermittel." Dann lächelt sie.

    Doch heute sehen es immer mehr junge Frauen wie die Allgäuerin Babsi Böck. Für sie ist die Pille Last statt Befreiung. Das spiegelt sich auch in einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wider: Im Jahr 2018 – neuere Daten gibt es nicht – verhüteten 47 Prozent der Paare in Deutschland mit der Pille. Bei den 18- bis 29-Jährigen waren es 56 Prozent. Aber: Im Vergleich zu der vorherigen Befragung im Jahr 2011 ist die Zahl um 16 Prozent zurückgegangen. Um die Pille ist wieder eine Diskussion entbrannt. Die Streitfrage lautet: Macht die Pille krank?

    Mit dem ersten Freund nahm Babsi Böck die Pille - wie die meisten Mädchen

    Krank würde Babsi Böck vielleicht nicht sagen, aber unglücklich schon. Dieses Unglück würde man bei ihr erst mal nicht vermuten. Die Allgäuerin ist sehr aktiv auf der Fotoplattform Instagram. Ihr Motto: Always smile – also lächle immer. So zeigt sie sich auch. Immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Gut gelaunt. Manchmal in witziger Pose. Doch trotz der Fröhlichkeit, die sie vermittelt, sagt sie heute: Als sie die Pille absetzte, hatte sie das Gefühl davor betäubt gewesen zu sein. Nicht ganz da.

    Ihre Beziehung zu dem Verhütungsmittel begann wie bei den meisten Frauen. Mit dem ersten Freund und der Frage: Wie verhindere ich, schwanger zu werden? Damals war Böck war 15 Jahre alt. Ihre Zwillingsschwester nahm schon die Pille, also entschied sie sich, auch zum Frauenarzt zu gehen. "Wir haben darüber gar nicht richtig geredet. Er hat gesagt, ich solle die Pille nehmen und ich habe das gemacht, ohne weiter nachzudenken", sagt Böck. Im Nachhinein hätte sie sich das anders gewünscht. Ein Gespräch über die Wirkung und die Nebenwirkungen und über mögliche Alternativen. Aber damals - mit 15 - da habe sie auf ihren Arzt vertraut, sah in der Pille kein Problem, sondern eine Lösung.

    Genau wie die Frauen in den 60er Jahren, von denen Alice Schwarzer spricht. Wobei, auch damals war dieses "Wundermittel" natürlich umstritten. Das lässt sich gut in alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der Zeit beobachten. Da sitzt zum Beispiel ein blonder junger Mann mit Seitenscheitel, Sakko und Krawatte vor einer wild gemusterten Tapete und sagt im schönsten Kölsch und mit strengen Tonfall: "Ich lehne die Pille für junge Mädchen ab. Junge Mädchen sollten erst mal Enthaltsamkeit üben. Damit sie es dann, wenn es darauf ankommt, auch können." Eine andere Aufnahme zeigt eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und Perlenkette. Sie befürchtet: "Wenn Jugendliche die Pille nehmen, wird die Sexualität ausschweifend, dann kann von Liebe keine Rede mehr sein." Das war die gesellschaftliche Stimmung. Voreheliche Sexualität war ein Tabu. Wenn eine Frau doch schwanger wurde galt: Heiraten, und zwar sofort.

    Gibt es einen Pillenknick?

    Seit 1961 gibt es die Pille in der Bundesrepublik. Immer wieder heißt es, die Markteinführung habe dazu geführt, dass die Geburtenrate gesunken ist. Der sogenannte Pillenknick. Aber der ist inzwischen höchst umstritten.

    Uta Brehm arbeitet am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und beschäftigt sich mit dem Thema Geburtenrate. Sie sagt: "Die Pille war nur ein Instrument, um den Wandel, der sowieso schon stattfand, umzusetzen." Und das heißt?

    Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre startete die Bundesrepublik eine massive Bildungsoffensive. Auslöser war der sogenannte Sputnikschock, wie Brehm sagt. Also das Entsetzen des Westens darüber, dass es der Sowjetunion schneller gelungen war, einen Satelliten ins Weltall zu schießen, als dem Westen. Um dem etwas entgegen zu setzen, wurde in Bildung investiert. Davon profitierten vor allem Frauen.

    Dazu kam, dass in den 60er Jahren auch der Wohlstand der Bevölkerung anwuchs. "Frauen wollten an diesem Wohlstand teilhaben", sagt Brehm. Sie forderten also eine stärkere Mitbestimmung und Selbstverwirklichung ein - auch über finanzielle Unabhängigkeit und Erwerbstätigkeit.

    Zudem weichten in den späten 60er Jahren zusehends die Rollenbilder auf. Die Frauenbewegung erlebte nach der ersten großen Welle zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen zweiten Aufschwung. Frauen wollten selbstbestimmter sein, sich nicht mehr nur auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festlegen lassen.

    Die Pille war das Instrument, das den Frauen half, all diese Vorhaben umzusetzen. Sie war das Mittel, mit dem sie die Familienplanung in die Hand nehmen konnten. Aber: Alleine die Einführung der Pille senkte nicht die Geburtenrate. Es war eine Mischung aus all diesen Faktoren.

    "Es lässt sich beobachten, dass die Geburtenrate in der BRD erst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre absinkt. Also nicht schon 1961 als die Pille auf den Markt kam", sagt Brehm. In der DDR, wo die Pille 1965 auf den Markt kam, verläuft die Entwicklung nahezu parallel. "Das zeigt, dass die Pille auf einen gesellschaftsübergreifenden Wandel trifft", sagt Brehm.

    Christian Fiala ist Verfechter der Pille: Keine andere Verhütungsmethode ist so wirksam

    Die Feministin Alice Schwarzer sagt: Vor der Pille war die Sexualität der Frau von der Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft geprägt.
    Die Feministin Alice Schwarzer sagt: Vor der Pille war die Sexualität der Frau von der Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft geprägt. Foto:  Henning Kaiser, dpa

    Schwarzer sagt dazu: "Die Frage der ungewollten Schwangerschaft hat die ganze Sexualität beherrscht. Es hat sich für eine einigermaßen verantwortungsbewusste Frau alles danach gerichtet. Und man wusste ja auch: Abtreiben kann man eigentlich nicht. Da hörte man was Munkeln von Küchentischen. Auch abseits der moralischen Fragen tat man das schon aus Angst nicht." Auch die Kirche machte keinen Hehl aus ihrer Ablehnung. Bis heute ist es katholischen Frauen verboten mit der Pille zu verhüten. Am Siegeszug der Pille hat das wenig geändert.

    Sowohl in der DDR - wo die Pille Wunschkindpille und nicht Antibabypille hieß - wie auch in der Bundesrepublik stieg die Pille binnen weniger Jahre zum Verhütungsmittel Nummer eins auf. Wurde sie zu Beginn nur verheirateten Frauen über 30 Jahren mit mindestens drei bis vier Kindern verschrieben, nahm Anfang der 70er Jahre schon jede fünfte Frau die Pille. Und die Zahlen wuchsen.

    Wenn es nach dem österreichischen Gynäkologen Christian Fiala ginge, sollte die Pille auch weiter die bevorzugte Verhütungsmethode bleiben. Fiala ist vielleicht der bekannteste Frauenarzt Österreichs. Das liegt vor allem daran, dass der 61-Jährige Chef zweier Abtreibungskliniken ist und sehr offen und häufig über das Thema spricht. Vor zehn Jahren gründete er das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbrüche in Wien. Antibabypillen aus sechs Jahrzehnten sind dort ausgestellt, Kondome aus allerhand Materialien oder mit den Logos angesagter Automarken. Aber auch historisches Medizinbesteck, das für Abtreibungen verwendet wurde. Eine von wenigen Institutionen auf der Welt, die sich dem Thema überhaupt widmet.

    Fiala: Hormone sind die Sprache des Körpers

    Fiala sagt: "Ich verdiene sehr gut daran, dass Frauen ungewollt schwanger werden und einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen." Dennoch – oder eher deshalb – ist er ein vehementer Verfechter der Pille. "Es ist einfach eine Illusion, dass es eine genauso wirksame Verhütungsmethode gibt, die ohne Hormone auskommt", sagt er. Und setzt dann an zu einer langen Erklärung. Er spricht ruhig und doch ist an seinem Redefluss zu spüren, wie sehr ihn das Thema umtreibt. Hormone, sagt Fiala, seien die Sprache des Körpers. Wer möchte, dass der Körper etwas nicht tue – zum Beispiel schwanger werden – der sollte auch in dieser Sprache mit ihm sprechen. Anders gesagt: Über Hormone versteht der Körper am besten, was der Mensch von ihm will.

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    Etwa seit dem Jahr 2000 beobachtet Fiala in der Gesellschaft eine Pillenmüdigkeit. Seither sei die Zahl der ungewollten Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche in seiner Praxis angestiegen. Und woran liegt diese Müdigkeit? "Die Menschen haben den Bezug dazu verloren, was natürliche Fruchtbarkeit ist. Es gibt keine Frauen mehr, die lebten und Kinder bekamen, als es die Pille noch nicht gab", sagt er. Es gebe keine Omas mehr, die ihre Enkelinnen ermahnten, richtig zu verhüten, um nicht wie sie selbst reihenweise Kinder zu bekommen. Frauen gingen heute davon aus, dass Frauen natürlicherweise, also auch ohne Verhütung, im Leben null bis drei Mal schwanger würden. "Das ist Unsinn. Während der 35 Jahre Fruchtbarkeit wird eine Frau natürlicherweise 10 bis 15 Mal schwanger." Außer sie kennt eine wirksame Methode zu verhüten. Etwa die Pille. Und was ist mit den Nebenwirkungen?

    Die Allgäuerin Babsi Böck beschreibt es so: Seit sie die Pille nicht mehr nimmt, interessiert sie sich viel mehr für andere Menschen, ist empathischer, seltener traurig oder schlecht gelaunt. Sie hat mehr Selbstvertrauen und fühlt sich wohler mit sich selbst. Auch körperlich hat sich bei ihr viel verändert. Die 26-Jährige arbeitet als Fitnesstrainerin und ist auf der Fotoplattform Instagram sehr aktiv. Dort wirbt sie für Fitness und gesunde Ernährung und erzählt von ihrem Leben ohne Pille. "Als ich aufgehört habe, die Pille zu nehmen, habe ich nichts an meiner Ernährung oder meinem Sportprogramm umgestellt und trotzdem sieben Kilo abgenommen", sagt sie. Wie lassen sich diese positiven Veränderungen erklären?

    Ingrid Mühlhauser: Die Nebenwirkungen der Pille sind viel zu schlecht erforscht

    Leider nicht wissenschaftlich fundiert, sagt die Hamburger Professorin für Gesundheitswissenschaften, Ingrid Mühlhause. Etwas, das sie enorm ärgert. "Wir stellen immer wieder fest, dass es zu den Fragen, die Frauen rund um die Pille beschäftigen, keine wissenschaftlich fundierten Antworten gibt." Macht die Pille depressiv? Verlieren Frauen ihre Lust auf Sex? Werden sie dicker? All das lässt sich nicht sicher sagen. Es gebe zwar Hinweise, "aber das alles passiert ja auch mit Frauen, die die Pille nicht nehmen. Es fehlen gute wissenschaftliche Daten zu den Zusammenhängen", sagt Mühlhauser. Genauso ist es bei der Frage, welche Wirkung es hat, die Pille abzusetzen. Ändert sich etwas oder ist es nur der Placebo-Effekt? Keiner kann das so genau sagen.

    Noch etwas ärgert die Professorin: Warum gibt es immer noch keine Pille für den Mann? Geforscht wird daran schon genauso lange wie an der Pille für die Frau. Ende der 2000er Jahre gab es eine groß angelegte Studie, die sogar recht erfolgversprechend war. Sie wurde aber eingestellt, weil die Männer über Nebenwirkungen wie Verlust der Libido, Gewichtszunahme und Kopfschmerzen klagten. Wie Frauen also auch. Aber: Ein Teilnehmer der Studie nahm sich das Leben. Ein anderer ließ sich wegen Suizidgedanken in eine Psychiatrie einweisen. Die Studie wurde beendet. "Bei Frauen werden Nebenwirkungen hingenommen", klagt Mühlhauser. Und warum? "Weil die Ärzte die Pille auch so verschreiben. Und die Pharmafirmen viel Geld für medizinische Forschung ausgeben müssten", sagt sie. Ihrer Meinung nach muss sich das ändern. Frauen verdienen Antworten auf diese Fragen.

    Nur: Wie viele Frauen haben überhaupt Nebenwirkungen, wenn sie mit der Pille verhüten? Die Hamburgerin sagt: "Die überwiegende Mehrheit der Frauen verträgt die Pille gut." Genauere Zahlen, welche Nebenwirkungen wie häufig auftreten, gebe es nicht. "Das, was in den Beipackzetteln steht, sind Beschwerden, die bei den Frauen aufgetreten sind, die das jeweilige Präparat genommen haben. Man weiß aber nicht, ob sie mit der Einnahme der Pille zusammenhängen." Mal wieder fehlen aussagekräftige Studien.

    Babsi Böck ist jedenfalls sicher, dass sie sich vor einem Jahr richtig entschieden hat, als sie die Pille absetzte. Heute wendet sie zur Verhütung einen Zykluscomputer an. Jeden Morgen misst sie ihre Temperatur und trägt sie dort ein. Er stellt fest, wann sie fruchtbar ist. Die Methode wird immer beliebter, ist aber sehr viel unsicherer als die Pille. Wer sie anwendet, muss seinen Körper wirklich gut kennen.

    Und sie möchte junge Mädchen aufrütteln. "Die sollen sich überlegen, was sie da tun und nicht einfach irgendwas schlucken." Bei dieser Aussage sind alle drei beisammen.

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