Die Loveparade, diese jährlichen Partyumzüge von Hunderttausenden zu elektronischer Tanzmusik – was sollten die uns heute noch erzählen können, wo sie doch seit der Tragödie von Duisburg vor vier Jahren endgültig Geschichte sind? Was sollte ein Erinnern, dass es heute vor 25 Jahren in Berlin damit losgegangen ist, also fruchtbar machen? Es ist die Einsicht, dass sich gerade in dieser schrillen Erscheinung des Zeitgeistes etwas Wesentliches über unsere Gesellschaft zeigt. Etwas, das auch heute noch fortwirkt.
Denn es ist ja kein Zufall, dass sich dieses Jubiläum so wunderbar einfügt in das Umsturzjahr 1989. In diesem Sommer begann sich das Ende des großen System-Konflikts abzuzeichnen, der die Menschheit als Erbe des Zweiten Weltkriegs gespalten hatte. Und nahezu zeitgleich zum ersten Zug des Partyvolks erschien ein Text des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, der von nichts weniger kündete als vom „Ende der Geschichte“. Mit seiner These, der bevorstehende Zusammenbruch des Sowjetsystems bedeute den endgültigen Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft, sorgte er für hitzige Debatten.
Die Techno-Freunde im Westen Berlins jedenfalls meldeten ihren Zug als Demonstration für „Friede, Freude, Eierkuchen“ an, während im Osten die Menschen noch mit allem Mut ein gemeinsames „Wir sind das Volk“ wagen mussten. Und nur drei Monate später erlebte ja jene Stadt, die die Loveparade gebar, tatsächlich den Mauerfall – und hörte Verheißungen von künftig „blühenden Landschaften“.
Die Loveparade jedenfalls lässt sich von da an als blühende Party der Freiheit verstehen. Im Gegensatz zur letzten musikalisch getriebenen Revolution, der des Rock ’n’ Roll 25 Jahre zuvor, war hier betont kein Bruch, kein kämpferisches Gegen mehr. Exzentrisch und knapp bekleidete Körper bewegten sich in Massen zum Takt von Songs ohne Botschaft, frei auch in der sexuellen Ausrichtung, frei von Geschmacksgrenzen, frei fürs Ich, das neue Goldene Kalb. Doch wenn es denn wirklich eine Revolution war, dann haben diesmal ihre Kinder sie gefressen. Durch ihren unglaublichen Erfolg ist die Loveparade bald zu einer Marke als sehr lohnendes Objekt der Marktwirtschaft geworden – und zur Dauerwerbesendung verkommen.
Sosehr diese Party für kurze Zeit ein Zeichen der ideologischen Befreiung war, so schnell wurde sie vereinnahmt von der neuen, indirekter herrschenden Ideologie. Es ist eine Parabel über den Kapitalismus, das Prinzip vorwegnehmend für den Rausch der 90er Jahre und darüber hinaus. Nicht nur die damals anschwellende New Economy und ihre konsumselige „Spaßgesellschaft“, auch der vermeintliche demokratische Aufbruch des heutigen Internetzeitalters: Sie scheinen zunächst von freien Entfaltungsmöglichkeiten zu künden, vor allem ideologiefreien; und sie münden doch in ein Herrschaftssystem. Dieses System hat als Ideal nicht das Optimum der Freiheit, sondern das Maximum des Profits – und sein Puls ist wie der jener Partymusik längst elektronisch programmiert.
So sind entgegen der Verkündigungen weder die blühenden Landschaften, noch ist das Ende der Geschichte erreicht, noch herrschen Friede, Freude, Eierkuchen. Von jenem Sommer 1989 an tanzte in den Straßen Berlins bloß eine Utopie, die von einer Welt, einem Leben ohne Ideologie. Dass es auch nach dem Ende des großen Systemkonflikts keinen Staat ohne eine solche gibt, wissen die, die damals tanzten und träumten, inzwischen wohl längst. Sie sind heute zwischen 40 und 55, bangen um ihre Rente und wählen vielleicht links – ausgerechnet.