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10. Todestag: In Südafrika rütteln immer mehr Schwarze am Denkmal von Nelson Mandela

Für viele Südafrikanerinnen und -afrikaner gilt Mandelas Wort noch immer als Maßstab. Doch die Kritik am einstigen Präsidenten wird lauter.
10. Todestag

In Südafrika rütteln immer mehr Schwarze am Denkmal von Nelson Mandela

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    Das großflächige, zweigeschossige Haus hat, wie Südafrika an sich, immer neue Metamorphosen vollzogen. Während seiner Präsidentschaft lebte Nelson Mandela in der Johannesburger Residenz. Mit dem Ende seiner Amtszeit im Jahr 1999 zog er aus. Der Kraft seines illustren Bewohners beraubt gab das Haus der Last der Geschichte nach. Es quartierten sich Obdachlose ein. 

    Nun, frisch renoviert, versucht es sich an einer Renaissance als gehobenes Gasthaus, mit angemessenem Pathos „Sanctuary Mandela“ getauft, zu deutsch: Zuflucht Mandela. Das Zeitalter politischer Ikonen wie Mandela oder Mahatma Gandhi ist vorbei, dabei erscheint ihre globale Strahlkraft in diesen so orientierungslosen Tagen so notwendig wie selten zuvor. Wer in Mandelas ehemalige Villa reist, traut den geschichtsträchtigen Gemäuern die Konservierung eines Gefühls der Hoffnung zu, das es außerhalb kaum noch zu finden gibt. An diesem 5. Dezember vor zehn Jahren starb Nelson Mandela im Alter von 95 Jahren in Johannesburg, in einem Haus nur einige Straßen von der Villa entfernt. Die neuen Lenker steuern die Nation ohne den moralischen Kompass, den Mandela im Kleinen wie Großen stets zur Hand hatte.

    Als symbolischer Mahner ist Nelson Mandela allgegenwärtig

    Als symbolischer Mahner bleibt er allgegenwärtig. Dutzende Statuen recken sich empor, die größte vor dem Regierungssitz in Pretoria. Mandelas fast zehn Meter hohes Monument steht dort mit ausgestreckten Armen, wie Jesus. Eine Gemeinde am Ostkap trägt seinen Namen, dazu Dutzende Straßen. Der Antiapartheidkämpfer lächelt auf Geldscheinen, lizenzierten Produkten, Postern, Graffitis. Jedes Jahr am 18. Juli ruft die Regierung anlässlich von Mandelas Geburtstag die Bürger zu 67 Minuten gemeinnütziger Arbeit auf – eine Minute für jedes Jahr, in dem Mandela politisch tätig war.

    Doch wenn man genau hinhört, erklingt in den Townships ein schwerer Vorwurf: Mandela habe das schwarze Volk bei den Verhandlungen zur Abschaffung der Apartheid verraten. Es wird an Mandelas Denkmälern, die er selbst nie wollte, zumindest moralisch gerüttelt. Das mag unerhört klingen beim Umgang mit einem Mann, der es vollbrachte, unsägliches und auch persönliches Unrecht zu vergeben, der akribisch nach Kompromissen suchte. Und damit wohl enormes Blutvergießen verhinderte.

    Als symbolischer Mahner bleibt Mandela allgegenwärtig. Dutzende Statuen recken sich im Land empor.
    Als symbolischer Mahner bleibt Mandela allgegenwärtig. Dutzende Statuen recken sich im Land empor. Foto: Kim Ludbrook, dpa

    Südafrika wird von den höchsten Einkommensunterschieden der Welt geprägt, die trotz einer wohlhabenden schwarzen Oberschicht noch allzu oft an der Hautfarbe erkennbar sind. Der durchschnittliche Weiße verdient noch immer dreieinhalb Mal so viel wie der durchschnittliche Schwarze. Diese nur langsam schrumpfende Ungerechtigkeit weckt vielerorts mehr Emotionen als die Milliardenkorruption des regierenden African National Congress (ANC), als die knapp 50 Prozent Arbeitslosigkeit bei jungen Erwachsenen und die bedrohlich steigende Staatsverschuldung, die in einigen Jahren Südafrikas Sozialsystem gefährden könnte. 

    Uneingeschränkt möchte keiner am Tisch Mandela beleidigen

    An einem Dienstag sitzt der Student Sinawo Sangovana, 20, mit vier Kommilitoninnen in einem Café. Der Geschichtskurs hat sie einander bekannt gemacht, wie auch die kontroverse Debatte, die unter ihnen kürzlich entbrannte beim Besuch auf der Gefängnisinsel Robben Island, wo Mandela einen Großteil seiner 27 Gefängnisjahre verbrachte. „Es gibt so viele, die Denkmäler verdient hätten“, sagt Sangovana, „Mandela werden zu viele Verdienste zugeschrieben, als wäre er Jesus Christus gewesen.“ Er verbindet den Namen des ersten demokratischen Präsidenten eher mit einer falschen Weichenstellung für die Nation.

    Uneingeschränkt möchte keiner am Tisch Mandela beleidigen, der Respekt für seine Entbehrungen, seinen Beitrag zur friedlichen Überwindung eines unüberwindbaren Systems ist zu groß. Doch bei Milchshake und Cappuccino entsteht eine Diskussion zwischen jungen Kritikern und Verteidigern von Mandelas Politik, die tiefsinnig genug ist, um beim Beobachter Hoffnung in die Zukunft dieses wunderbaren Landes wiederzubeleben.

    Die Studierenden kritisieren die aus ihrer Sicht zu niedrigen Spitzensteuersätze, die weiterhin hohen Kosten für Hochschulbildung, wofür Mandela Mitverantwortung trage, ebenso wie für die Akzeptanz neoliberaler Bedingungen von Kreditgebern wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds, die letztlich zu den enormen Einkommensunterschieden auch in der schwarzen Bevölkerung beigetragen hätten. Und sie stören sich an der „Ikonisierung“ Mandelas im schulischen Geschichtsunterricht, der kaum Platz für andere Inhalte biete. Diese Ikonisierung überdecke den Mitverdienst vieler anderer am Sturz des Apartheidregimes und die Tatsache, dass Mandela auch seine heute umstrittenen Entscheidungen selten allein getroffen habe. Zudem werde, so der Tenor der Gruppe, manche aktuelle Kritik am ANC als Majestätsbeleidigung an

    Neulich, in einem Sammeltaxi eines Townships, unterhielt sich Student Sangovana mit einem Freund. Sie sprachen über die großzügigen Zugeständnisse an die Weißen. Aber auch über die während Mandelas Präsidentschaft aufkeimende Korruption, damals beginnende und geduldete Misswirtschaft, etwa bei Sozialbauten. „Wir sind politisch frei, aber nicht gedanklich, nicht wirtschaftlich.“

    Die Vorwürfe an Mandela speisen sich auch aus der Enttäuschung angesichts der Entwicklung Südafrikas

    Ein älterer Fahrgast in dem Kleinbus schaltete sich ein: „Bist du ein Born-free?“ wollte der Fremde wissen. So nennen sie in Südafrika die Generation, die nach der Apartheid geboren ist. Sangovana nickte. „Deshalb redest du so“, erwiderte der Mann nur. Es war seine Art zu sagen, dass sich jede weitere Diskussion erübrige.

    Der linksradikale Populist Julius Malema, dessen EFF-Partei immerhin elf Prozent der Parlamentssitze hat, beschuldigte in einem Vortrag Mandela des „Ausverkaufs der Revolution“. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis habe Mandela „die Clubtreffen jener weißen Männer besucht, denen damals die südafrikanische Wirtschaft gehörte“. Mandela hatte vor den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1994 zugestimmt, dass die Eigentumsrechte der Weißen gesichert würden – ein Zugeständnis, das schließlich in der äußerst progressiven Verfassung verankert wurde.

    Populisten wie Malema rütteln an den entsprechenden Paragrafen und fordern eine umfangreiche Landreform im Agrarbereich, die bei ungenutzten Flächen auch entschädigungslose Enteignungen weißer Besitzer möglich macht. Er scheint im Verbund mit dem linken Flügel des ANC das Zerschneiden des dünnen Kitts, der die vielfältigen Fäden der Gesellschaft zusammenhält, zum Geschäftsmodel erhoben zu haben. 

    Die Vorwürfe an Mandela speisen sich auch aus der Enttäuschung angesichts der Entwicklung Südafrikas, immerhin eine der 40 größten Volkswirtschaften der Welt. 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sagen, das Land bewege sich in die falsche Richtung. Im Jahr 2010 waren es nur 49 Prozent. Nur jeder Vierte vertraut der Regierung des ANC, 2005 waren es unter Mandela-Nachfolger Thabo Mbeki noch stattliche 64 Prozent.

    Auch die älteste noch lebende Tochter kratzt an Mandelas Denkmal

    Doch es sind nicht nur Volksverhetzer wie Malema, die an Mandelas Denkmal kratzen. Auch eine Unternehmerin tut das, die nach wochenlangem Zögern einem Gespräch zugestimmt hat. Mandelas älteste noch lebende Tochter: Makaziwe, 69. Die Fahrt zu ihrem Haus im gehobenen Johannesburger Stadtteil Hyde Park erzählt von einem Volk, das sich mit routinierter Effizienz selbst organisiert, um mit den von Mandelas Nachfolgern verursachten Widrigkeiten umzugehen. Der Strom ist mal wieder ausgefallen, und mit ihm die Ampeln. Arbeitslose, die sonst am Rande der Gesellschaft verweilen, treten aus dem Schatten hervor und übernehmen eine unerwartete Rolle als Verkehrsdirigenten. Es ist, als ob die Unsichtbaren, von einer Versicherung mit Almosen für ihre Dienste entlohnt, die Verantwortung für das Chaos übernommen haben, um eine gewisse Form der Ordnung aufrechtzuerhalten.

    „Es ist einfach, einen Mann zu kritisieren, wenn man nicht in seinen Schuhen gestanden hat“, sagt Makaziwe Mandela über ihren Vater. Verklären will sie ihn aber nicht.
    „Es ist einfach, einen Mann zu kritisieren, wenn man nicht in seinen Schuhen gestanden hat“, sagt Makaziwe Mandela über ihren Vater. Verklären will sie ihn aber nicht. Foto: Christian Putsch

    Das Tor zum Anwesen öffnet sich, in der Haustür steht im farbenprächtigen Kleid die elegante Mandela-Tochter, die über das gleiche sanfte Lächeln wie ihr Vater verfügt, es aber zunächst nur zögerlich einsetzt. Zuletzt hatten sich Journalisten vor allem am Nachweis abgemüht, dass neben dem ANC auch die eigene Familie manchmal an Mandelas Idealen von Vergebung scheitert. Die Nachkommen aus seinen ersten beiden Ehen stritten um Familiengrabstätten, Angelegenheiten der Stiftung, Artefakte und andere Hinterlassenschaften.

    Doch heute soll es um Mandelas politisches Schaffen gehen, und auch da hat die Tochter nie mit klaren Positionen und Widerreden gezögert. Der Vater verlangte regelrecht danach, wollte keine Kopie seiner eigenen Gedanken, keine „Ja“-Tochter. Die Bitte erfüllt sie bis heute. Die Politik ihres Vaters erschien ihr zu sehr an den Interessen des Westens ausgerichtet, zu kapitalistisch, zu neoliberal. Doch ein Ausverkäufer Südafrikas? Das sei ihr Vater nicht gewesen, sagt sie.

    Verklären will Makaziwe Mandela ihren Vater nicht

    „Es ist einfach, einen Mann zu kritisieren, wenn man nicht in seinen Schuhen gestanden hat“, sagt sie, im tiefen Sofa sitzend, „wenn man nicht vor Gericht war, in der Bereitschaft zu sterben. Wenn man nicht 27 Jahre ins Gefängnis gegangen ist.“ Und wenn man danach nicht vor der unlösbar anmutenden Aufgabe stand, nach 350 Jahren der Unterdrückung einen friedlichen Übergang zur Demokratie anzuführen. Dass dies gelungen sei, wie unvollkommen auch immer, sei ein großes Verdienst gewesen.

    Doch verklären will Makaziwe Mandela ihren Vater nicht, vielleicht weil sie selbst Opfer brachte, bringen musste. Das Make-up in ihrem Gesicht kann die Spuren einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Entscheidungen ihres Vaters nicht ganz überdecken. Öffentlich sprach sie über ihre Wut und Bitterkeit, die sie in ihrer Jugend wegen des fehlenden Vaters fühlte. Nelson Mandela stellte den Kampf für das Volk über die Familie, ließ die „Kinder verwundbar zurück“, wie er „den schmerzhaftesten Aspekt“ seines Lebens einst selbst beschrieb. 

    Ihr Vater habe bei seiner Freilassung eigentlich die mächtigen, von Weißen dominierten Bergbaufirmen nationalisieren wollen, sagt die Tochter. Doch dann habe er sich umstimmen lassen, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, vom britischen und amerikanischen Einfluss, auch den Präsidenten der asiatischen Tigerstaaten. „Es war sein größter Fehler, dass er die sozio-ökonomische Struktur der Apartheid intakt gelassen hat“, sagt Makaziwe Mandela, „wir hatten die politische ohne die wirtschaftliche Macht – ein hohler Sieg.“ Doch für die aktuellen Probleme des Landes sei in erster Linie der marode ANC verantwortlich, stellt sie klar. 

    Ein treffenderes Symbol für den Zustand des südafrikanischen Staats könnte es kaum geben

    Auf dessen Konto geht die Milliardenkorruption in den Staatskonzernen, die Energiekrise, miserable Bildungsergebnisse, stagnierende Wirtschaft und ein Staat, der es noch immer nicht geschafft hat, das Dach seines eigenen Parlaments zu ersetzen, das vor nunmehr knapp zwei Jahren abgebrannt ist. Ein treffenderes Symbol für den Zustand des südafrikanischen Staats könnte es kaum geben.

    Die Partei ihres Vaters hätte es aus Sicht von Makaziwe Mandela verdient, für seine Versäumnisse im kommenden Jahr an der Wahlurne abgestraft zu werden, der ANC könnte Analysten zufolge erstmals die absolute Mehrheit und damit die Alleinherrschaft verlieren. „Mein Vater hat immer gesagt, dass die Menschen jedes Recht haben, den ANC abzuwählen, wenn er nicht mehr abliefert.“ Die Partei sei zerstritten, „und wenn die Zweige kämpfen, dann kann der Baum nicht überleben“.

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