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Nördlingen: Vor 100 Jahren wurde die erste Rieser Heimatwoche abgehalten

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Vor 100 Jahren wurde die erste Rieser Heimatwoche abgehalten

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    Ein Blick in die Reihen der Ehrengäste und Zuschauer im Schlosspark von Wallerstein bei den ersten Rieser Kulturtagen Mitte der 70er Jahre. Das Bild ist im Dokuband 1976 festgehalten.
    Ein Blick in die Reihen der Ehrengäste und Zuschauer im Schlosspark von Wallerstein bei den ersten Rieser Kulturtagen Mitte der 70er Jahre. Das Bild ist im Dokuband 1976 festgehalten. Foto: Foto Fischer Oettingen

    Als Walter Barsig, der Vorsitzende des 1975 neu gegründeten Vereins Rieser Kulturtage, den neuen Verein vorstellte, erinnerte er an die erste Rieser Heimatwoche des Jahres 1922, der er attestierte, ein früher Vorgänger des neuen Vereins zu sein. Mit Recht, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

    Samstag, 22. Juli 1922: Der damalige Nördlinger Bürgermeister Dr. Otto Mainer konnte zur Eröffnung der Heimatwoche im Saal des Deutschen Hauses zahlreiche Ehrengäste begrüßen. Die Festveranstaltung wurde eingeleitet mit dem 1. Satz der Jupitersymphonie von Mozart, dargeboten von der Orchestervereinigung Nördlingen unter der Leitung von Musikmeister Dittmar. Auch die Chöre des Liederkranzes

    Genau genommen waren es verschiedene Heimattage. Die Veranstaltungsreihe war nicht auf Nördlingen zentriert, sondern auf die Städte des Rieses verteilt, also auf Bopfingen, Oettingen, Wemding und Nördlingen, wobei dem „Heimattag auf Ruine Niederhaus und dem Karlshof“ eine besondere Bedeutung zukam. Die Themen waren weit gesteckt: Geologie, Pflanzenkunde, Klima, Archäologie, Geschichte, Kunst- und Baugeschichte, Literaturgeschichte und Theologie – aus all diesen Fachgebieten wurde von namhaften Wissenschaftlern berichtet. Das Angebot an Vorträgen wurde abgerundet durch Führungen und Exkursionen.

    Dr. Otto Mainer (1881 bis 1960), Initiator der 1. Rieser Heimatwoche. In seiner Zeit wurden auch der Verein Alt Nördlingen und die Knabenkapelle gegründet. Er war selbst literarisch tätig.
    Dr. Otto Mainer (1881 bis 1960), Initiator der 1. Rieser Heimatwoche. In seiner Zeit wurden auch der Verein Alt Nördlingen und die Knabenkapelle gegründet. Er war selbst literarisch tätig. Foto: Stadtarchiv Nördlingen

    Der Erfolg war überwältigend, sodass 1926 die zweite Rieser Heimatwoche folgte. Beide Heimatwochen fanden ihren literarischen Niederschlag in umfangreichen Publikationen. Freilich zeigt sich hierbei, dass der Aufsatzband des Jahres 1926 schon deutlich mehr völkisch orientierte Beiträge enthält, die heute als Vorboten der Nazi-Ideologie verstanden werden müssen, die den Heimatgedanken letztlich ad absurdum geführt hat. Spätestens ab 1933 war Heimat das, was die Nazis darunter verstanden.

    1922 war dies noch anders, denn der von Dr. Otto Mainer und anderen Rednern propagierte Heimatgedanke hatte noch nichts von der späteren Blut- und Bodenideologie der Jahre ab 1933. Man sah wohl die Begriffe „Heimat“ und „Volk“ aufeinander bezogen, aber von einem derart verengten Heimatbegriff der Nazizeit konnte 1922 noch nicht die Rede sein.

    Die erste Rieser Heimatwoche war der Vorläufer der Rieser Kulturtage

    Man kann diese Heimatwochen mit guten Gründen als Vorläufer der Rieser Kulturtage ansehen. Denn wie die Heimatwoche, so will auch der neue Verein RKT das gesamte Ries einbeziehen und Wissen vermitteln, nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern und Dorfwirtschaften in Form von Vorträgen, Führungen und Exkursionen. Wie die Heimattage des Jahres 1922 haben die Rieser Kulturtage einen weiten Kulturbegriff, der letztlich auch vor wirtschaftlichen Fragen nicht Halt macht. Die Satzung des Vereins RKT trägt die Handschrift Anton Jaumanns, der diesen weit gefassten Kulturbegriff propagierte, unter dem er eben nicht nur die Hochkultur verstanden wissen wollte, sondern alle kulturellen Äußerungen des Menschen. Walter Barsig formulierte es mit Blick auf die Zielsetzungen des Vereins so: „Will man das alles zu erledigen suchen, dann sind Bildende Kunst, Denkmalpflege, Brauchtum, Sprache und Literatur, Musik, Landschaftsgeschichte, Archäologie, Geologie, Landschaftspflege, Schule und Kirchen, aber auch die Wirtschaft und Landwirtschaft in das Programm einzubeziehen.“

    Wie die Heimatwochen der 1920er-Jahre bringen auch die RKT Dokumentationsbände über die jeweiligen Kulturtage heraus. Diese sind längst zu unverzichtbaren Nachschlagewerken und wichtigen Bestandteilen einer jeden guten Bibliothek geworden. Liegen also die Übereinstimmungen zwischen den Rieser Heimatwochen der 1920er-Jahre und der RKT auf der Hand, so gibt es doch eine Ausnahme. Während die Rieser Heimatwochen nur zweimal stattfanden, können die RKT auf eine lang andauernde Tradition zurückblicken: Heuer, im Jahre 2022, können die 24. RKT gefeiert werden – eine beachtliche Kontinuität.

    Das Rieser Heimatbuch von 1922: Ein Überblick der Nördlinger Geschichte

    Wie modern und umfassend die Verantwortlichen der Rieser Heimatwoche des Jahres 1922 dachten, zeigt ein Blick in das damals entstandene „Rieser Heimatbuch“, herausgegeben von der Gesellschaft für Volksbildung Nördlingen und gedruckt bei der C.H. Beck‘schen Buchdruckerei Oskar

    Titelblatt des Rieser Heimatbuches von 1922.
    Titelblatt des Rieser Heimatbuches von 1922. Foto: Repro Stadtarchiv Nördlingen

    Das eigentlich Moderne liegt aber in dem Beitrag „Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Rieses“ von Friedrich Zahn, dem Präsidenten des Bayerischen Statistischen Landesamtes München. Der Autor macht klar, dass das Ries in vielerlei Hinsicht noch im Dornröschenschlaf liege, was die touristische Vermarktung seiner zahlreichen Sehenswürdigkeiten anbelangt. Auch wenn in Nördlingen 1906 ein Verkehrsverein aus der Taufe gehoben worden war, so fehlte es noch an Vermarktungsstrategien und an einem klaren Konzept.

    Eine tiefschürfende Kultur- und Zivilisationskritik enthält der Beitrag des Stuttgarters Dr. Kimmich, dessen Gedankengänge auch heute Gültigkeit beanspruchen können. Was er zum Themenkreis Mensch – Heimat – Technik – Natur zu sagen hatte, könnte auch die heute allenthalben geführte Diskussion des Heimatbegriffs bereichern. Äußerst aktuell klingt es, wenn der Autor sagt: „Nicht ins Unbegrenzte fort läßt sich der Ertrag der Landwirtschaft steigern.“ oder „Die ganze

    Welcher Heimatbegriff soll verwendet werden?

    Heute gilt es, das Thema Heimat erneut aufzugreifen und die Frage zu stellen, welchen Heimatbegriff man verwenden möchte. Angesichts des furchtbaren Krieges Russlands gegen die Ukraine hat der Heimatbegriff eine neue Dimension erfahren. Was macht er mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten? Welche Traumatisierungen bringt der gewaltsame Verlust der Heimat mit sich? Das macht deutlich: Über Heimat muss immer wieder von Neuem nachgedacht werden.

    Im Deutschen Haus wurde die 1. Rieser Heimatwoche 1922 eröffnet.
    Im Deutschen Haus wurde die 1. Rieser Heimatwoche 1922 eröffnet. Foto: Stadtarchiv Nördlingen

    Ulrich M. Ritzel betitelte seine Würdigung der ersten Rieser Kulturtage in der Augsburger Allgemeinen Zeitung am 22. Mai 1976 mit der Formulierung „Wo Landschaft noch Heimat ist“. Das ist eine bemerkenswerte Wendung, denn heute verändert sich das Landschaftsbild so sehr, dass die Gefahr besteht, dass das an die Landschaft gebundene Heimatgefühl verloren geht. Oder anders formuliert: Bei welchem Grad an Veränderung verliert eine Landschaft ihren Charakter? Was ist Heimat? Es ist wichtig und richtig, dass die 24. Rieser Kulturtage dieser Frage in einer Ausstellung im „Tannenturm“ (An der Baldinger Mauer 1) der Nördlinger Stadtmauer nachgehen.

    Der Heimatgedanke ist die Klammer zwischen der Rieser Heimatwoche des Jahres 1922 und den heutigen Rieser Kulturtagen. Es ist lohnenswert, an diesen kulturellen Höhepunkt vor 100 Jahren zu erinnern, weil er mit guten Gründen als ein Vorläufer der modernen Rieser Kulturtage bezeichnet werden kann und weil eine Rückbesinnung wichtig ist für eine Standortbestimmung des Tuns und Handelns in der Gegenwart und für eine Weichenstellung für die Zukunft.

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