Der Abend des 11. November war uns Kindern immer sehr unheimlich. Kaum eines war da mehr gern nach Einbruch der Dämmerung unterwegs. Alle hatten Angst vor dem Nussmärtel, der bei uns im Südries früher "Waudl" hieß. Eingemummt in einen langen dunklen Mantel und mit wehendem Bart und Kettengeklirr polterte er durch die schon oft verschneite Dorfstraße. Nicht selten waren es sogar mehrere Gestalten, die von Haus zu Haus gingen, und da war es schon besser, in der sicheren Stube zu sein, wenn "das wilde Heer" ins eigene Haus kam.
Volkskundlich handelte es sich beim "Waudl" um die uralte Gestalt des germanischen "Wodan", der trotz Christianisierung und Umdeutung auf den "Sankt Martin" die Jahrhunderte überlebt hatte. Um die wilden Gestalten zu besänftigen, mussten die Kleinen ein Gebet freier Wahl aufsagen; danach leerte der "Waudl" aus seinem Rupfensack Äpfel, Nüsse und Lebkuchen auf den Fußboden, die, nachdem er gegangen war, eingesammelt und gegessen wurden.
Deshalb heißt der Nussmärtel so
Im evangelischen Ries hat sich dank Luthers Vorname Martin im Laufe der letzten Jahrzehnte der Name "Nussmärtel" (Nuss-Martin) durchgesetzt. Nur in Deiningen war bis in die 1960er Jahre für die katholischen Gemeindebürger der Martinstag wegen des gleichnamigen Patroziniums ein Feiertag. Max Eichmeier (1923 bis 1988), langjähriger Rektor an der Deininger Grund- und Hauptschule, verfasste 1981 zu diesem Brauch ein kleines Gedicht, das in seinem Büchlein "Erinnerung an den Schwalbenflug", Steinmeier-Verlag Nördlingen, abgedruckt ist:
Dr Nußmärtl
"Buale lompats, ‘s will mr scheina", hab e geschtrn zoarne g'redt, "nägschtns siehg de abr greina, wenn dr Märte kommt, moisch net?
Der woiß all dei bäase Sacha von deam ganza langa Joahr, do hosch huir nix zom Lacha, Freind, der packt de an de Hoar.
Kriaga duasch mim groaßa Schtegga ond en Sack kommsch o no nei, Bua, des isch koi Zuggrschlegga, 's weard dr schlimmschte Märtl sei!"
"Nutzt nix, Vadr", sagt mei oinr, "daß mr Angscht machsch voar deam Ma, 's kommt doch wiedr nor a kloinr, ond der hot dei Hosa a!"
Heute kommt seit einigen Jahrzehnten am 6. Dezember oder in der Nacht davor der Nikolaus, verkleidet als Bischof mit Rauschebart, Bischofsstab, goldenem Buch und Geschenkesack in evangelische und katholische Häuser. Viele Eltern können kaum mehr zwischen Nussmärtel und Nikolaus unterscheiden. So kommt auch zu den evangelischen Kindern inzwischen der Nikolaus und füllt zumindest die vor die Wohnungstür gestellten Kinder-Stiefelchen. Zudem leben wir in der Zeit, wo sich der unchristliche „Weihnachtsmann“ mit seiner roten Zipfelmütze durchzusetzen beginnt. Die Werbung tut ein Übriges, diesen Trend zu unterstützen. Vereine greifen die neue Gestalt auf, da sie an kein Datum und keine Konfession gebunden ist und die ganze Adventszeit über verwendet werden kann.
Pantoffel rückwärts an die Stubentür werfen
Je kürzer die Tage werden, desto intensiver lebten alte Bräuche auf. "Kathrein (25. November) stellt Pfeifen und Tanzen ein", hieß es einmal auch im Ries. „Sankt Andres (30. November) bringt den Winter gwieß“, meinte, dass das Bauernjahr endgültig in ruhigere Bahnen geriet. In sogenannten Losnächten wie dem Andreastag (30. November) und dem Thomastag (21. Dezember) konnten Liebende in die Zukunft schauen: „Andre, i bitt di, Bettstatt, i tritt di, lass mir erschein‘ den Herzallerliebsten mein!“ Das Mädchen konnte auch seinen Pantoffel rückwärts an die Stubentür werfen und so etwas über die Zukunft erfahren: Fiel der Schuh mit der Spitze zur Tür, so bedeutete dies, dass sie den Hof verlassen würde; fiel der Schuh so, dass er zum Bett zeigte, hieß das, dass ein Bräutigam zu ihr kommen wird.
Ein Barbarazweig (4. Dezember) in die warme Stube gebracht, steht an Weihnachten in voller Blüte. Die heute ganz Alten erinnern sich noch an die Thomasnacht (21. Dezember), in der man in die Zukunft schauen konnte. Als "Losnacht" stand sie im Kalender: "Heiliger Thoma, i sä dir an Soma, i sä dir an Lein, dass mir heit Nacht der Meinig erschein". - Der Adventskranz ist seit nunmehr rund hundert Jahren auch im Ries in Gebrauch, nicht ganz so lang der Adventskalender als süße Vorbereitung „auf‘s Fest“ für die Kinder. Allgemeingut wurde auch der „Tannenbaum“ als Christbaum (noch vor 140 Jahren stellte man ein Kirschbäumchen in die Stube). Weihnachten wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte zum wichtigsten Fest der Christenheit. Wie sehr das Weihnachtsfest allerdings noch von heidnischem Gedankengut unserer Vorfahren belastet ist, das kann der interessierte Leser demnächst lesen.