Es steht. In der Altstadt. Bronzefarben, hier und da ein wenig dunkler in den Falten des Trikots und der Hose, aus der die kräftigen Oberschenkel Müllers hervorkommen. Sie, die auch verantwortlich waren für Gerd Müllers Spitznamen "kleines dickes Müller", so sagte es sein erster Trainer, Tschick Čajkovski. Die Stadt hat ihrem berühmtesten Sohn ein Denkmal gesetzt, vor Tausenden Besucherinnen und Besuchern. Doch der 3. November 2022 begann gemächlich.
Kurz vor 9 Uhr, dichter Nebel liegt über der Stadt, der Daniel scheint nur leicht hindurch. Der Parkplatz für den Standort der Statue ist zwar frei, doch von ihr selbst ist noch nichts zu sehen. Dafür fährt die Kehrmaschine des Bauhofs den Platz noch einmal ab, schließlich soll alles hergerichtet werden für den großen Tag, wenn Politik- und Sportprominenz ins Ries kommt. Doch dass dies ein außergewöhnlicher Tag ist, zeigt sich bereits einige Stunden später. Da steht es dann schon, das Denkmal. Allerdings noch nicht ganz so denkwürdig eingepackt in graue Folie, fixiert mit grauem Klebeband auf Rollrasen. Mitarbeiter der Stadt bewachen sie, nicht dass jemand auf die Idee kommt, die Statue vorzeitig freizulegen.
Doch schon jetzt ist das Interesse da. Eine Passantin, die das Geschehen ein wenig beobachtet hat, meint: Manche seien überrascht gewesen, dass die Statue so klein wirke. "Aber er war ein kleiner Mann. Seine Größe kam erst durch seine Leistung zustande." Eine große, pompöse Statue, die brauche der Gerd Müller nicht. Noch ist die Statue nicht abgesperrt, ein Fan des FC Bayern aus dem Allgäu lässt sich schon mal jetzt neben der grauen Folie fotografieren. Ein anderer zeigt darauf, fragt einen Stadtmitarbeiter: "Is des?" Der antwortet: "Des is."
Ein Fan ist fast 400 Kilometer gefahren, um zur Enthüllung zu kommen
Auch Reiner Ingrisch aus Hessen ist da. 380 Kilometer hat er zurückgelegt, sich freigenommen, um dabei zu sein. Er bezeichnet sich als "größten Gerd-Müller-Fan Deutschlands", wohl wissend, dass er nicht der einzige ist, der sich wohl so nennen wird: "Den Kampf nehme ich auf." 1959 sei er geboren, habe Fußball anfangs nur im Radio verfolgt und da sei natürlich Gerd Müller in jedem Spiel vorgekommen: "So wurde ich zu seinem Fan." Als Jugendlicher war er in den Ferien häufig bei seiner Tante in München, erzählt Ingrisch, sei immer zur Säbener Straße gepilgert, habe die Nähe zu seinem Idol gesucht, Autogramme geholt. Irgendwann soll Müller ihn erkannt und gesagt haben: "Hör mal, bist du schon wieder da?" Immer wieder habe er ihn getroffen. Es sei toll, dass die Stadt ihm nun ein Denkmal setze. Doch Ingrisch vermutet, dass das Müller nicht recht gewesen wäre: "Er war so bescheiden."
Müllers Jugendfreund Helmut Wurm ist an diesem Tag ebenfalls ein beliebter Gesprächspartner für die vielen Medien, die für diesen Tag nach Nördlingen kommen. Er hofft, dass das Gesicht der Statue gelungen sein wird, bei einer ersten Reise ins Atelier des Künstlers Herbert Deiss sei der Kopf noch nicht so gut gewesen. Auch er sieht es so, dass Gerd Müller der große Aufwand wohl kaum gefallen hätte, schließlich habe er immer den Fokus aufs Sportliche gelegt. "Das entspricht nicht seinem Naturell."
Das ist Gerd Müller
Gerd Müller wurde am 3. November 1945 als jüngstes von fünf Kindern in Nördlingen geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Als Zwölfjähriger schloss er sich dem TSV Nördlingen an, dessen Spielstätte ein halbes Jahrhundert später zum „Gerd-Müller-Stadion“ ernannt wurde. Mit 14 begann er eine Weberlehre.
Mit 17 debütierte er in der Nördlinger Männermannschaft, die er praktisch im Alleingang in die Landesliga schoss. Nach 47 Toren in 28 Partien war klar, dass im Ries ein Juwel heranwuchs.
Der damalige Bundesligist 1860 München wollte Gerd Müller verpflichten. Allerdings kam der FC Bayern den Löwen zuvor. Für 4400 Mark Ablöse wechselte der spätere Jahrhundertstürmer zu den Roten. Nebenher arbeitete er halbtags bei einem Möbelhändler.
Müllers Start beim damaligen Regionalligisten FC Bayern verlief holprig. Erst als der Vereinspräsident Wilhelm Neudecker Druck auf Trainer Cajkovsky machte, durfte Müller spielen. Am Ende der Aufstiegssaison in die Bundesliga hatte er 39 Mal getroffen.
Sein außergewöhnliches Talent, aus beinahe jeder Lage ein Tor zu erzielen, war nun nicht mehr zu übersehen. Müllers 40 Tore aus der Bundesliga-Saison 1971/72 waren fast ein halbes Jahrhundert lang Bundesliga-Rekord. erst im Jahr 2021 übertraf ihn Robert Lewandowski mit 41 Treffern.
Müllers Tore waren Grundlage für die Entwicklung des FC Bayern zum deutschen Rekordmeister und international ruhmreichsten Aushängeschild der Bundesliga. Von 1974 bis 76 gewannen die Münchner dreimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister, den Vorgängerwettbewerb der Champions League.
Zehn Müller-Treffer bei der WM 1970 mit der anschließenden Kür zu „Europas Fußballer des Jahres“ waren ein Höhepunkt seiner Karriere. Müller war der erste deutsche Spieler, dem diese Ehre zuteil wurde. Vier Jahre später: der WM-Triumph in Deutschland. 2:1 im Finale gegen Holland. Die deutschen Torschützen waren Breitner und natürlich Müller.
Nach dem Abschied vom FC Bayern 1979 zog es Müller dorthin, wo sich damals alle Großen der Fußball-Welt noch ein üppiges Übergangsgeld verdienten – in die USA. Mit den Fort Lauterdale Strikers traf er auf andere Altstars wie Carlos Alberto oder Franz Beckenbauer. 1982 war Schluss mit Fußball.
Es begann die schwierige Zeit in Gerd Müllers Leben. Als Fußball-Pensionär übernahm er als Teilhaber ein Steakhouse, in dem er den prominenten Gastgeber spielen sollte. Er, der auch nach zwei Jahren in den USA kaum einen Satz Englisch sprach, in der Rolle des Unterhalters. Das musste schief gehen. Müller fand sind in seinem neuen Leben nicht zurecht und begann zu trinken.
Ohne Perspektive kehrte er mit seiner Frau Uschi, die in der Anfangszeit seiner Karriere auch seine Managerin war, und seiner Tochter Nicole nach München zurück. Aber auch hier wusste er nichts mit sich anzufangen.
1991 kehrte er in seiner Not wieder häufiger nach Nördlingen zurück – in seine Heimatstadt, zu der er in den Jahren nach seinem Weggang ein gespaltenes Verhältnis entwickelt hatte. Zur Beerdigung der Mutter war er erst aufgetaucht, als der offizielle Teil des Begräbnisses vorbei gewesen war.
Die innere Leere Anfang der 90er Jahre betäubte er mit Alkohol – bis sich Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß seiner annahmen. Nach einer erfolgreich abgeschlossenen Entziehungskur schien sich sein Leben wieder zum Guten zu wenden. Der FC Bayern beschäftigte Müller als Assistenz- und Nachwuchstrainer. Bei Bundesligaspielen saß er auf der Auswechselbank.
Im Laufe der frühen 2010er Jahre erkrankte Müller an Alzheimer. Am 15. August 2021 starb er in einem Pflegeheim. (as)
Der Platz vor der Gerd-Müller-Statue in Nördlingen füllt sich
Doch jetzt kommen die Menschen. Während viele Bayernfans sich gegen 16 Uhr vor der alten Schranne versammelt haben, um einen Blick auf die Idole zu erhaschen, kommen andere schon zur Statue, um sich einen guten Platz zu sichern. Die graue Folie ist mittlerweile einem rot-weißen Tuch gewichen, das mit Schnüren entfaltet werden kann. Zwei Sicherheitsleute passen auf das Denkmal auf. Es gibt Würstchen und Getränke, Scheinwerfer tauchen das Gebäude hinter der Statue in rotes Licht. Der Platz füllt sich weiter, um 17.10 Uhr spielt der DJ "Final Countdown", doch das ist noch verfrüht: Erst eine Stunde und 16 Minuten später wird der große Moment kommen. Ganze Familien mit Enkeln sind da, Menschen, die keine Fußballfans sind, sich das aber nicht entgehen lassen wollen.
Es wird dunkel. Der Klang der Trompeten der Knabenkapelle erklingt auf dem Gerd-Müller-Platz. David Wittner, Markus Söder, Herbert Hainer, sie alle würdigen die Leistungen Gerd Müllers, Künstler Deiss schildert den Prozess des Erschaffens der Statue.
Der Moment der Enthüllung: ein akustischer und optischer Trommelwirbel
18.26 Uhr: Die roten Scheinwerfer werden zu einem flackernden, optischen Trommelwirbel, untermalt vom akustischen der Knabenkapelle, der zwischen den Häusern hin und her hallt. Die Schnüre werden entwirrt, noch ein zusätzlicher Griff und dann schließlich fällt das rot-weiße Tuch. Es ist der Moment, auf den alle gewartet haben. Weiß-golden glitzert die Statue im Scheinwerferlicht, Applaus, die Knabenkapelle spielt.
Nachdem die Prominenz die Statue begutachtet hat, dürfen dann die Fans ran – sie alle wollen ein Foto, die Sicherheitsleute müssen die Menschen zurückhalten.
Zwei Stunden später ist es wieder leichter möglich, einen Blick auf die Statue zu erhaschen. Die Masse hat sich aufgelöst, doch gefeiert wird noch immer. Und wie gefällt die Gerd-Müller-Statue den Menschen? Ein junges Paar findet sie gut gelungen, dynamisch. Bürger Erich Oswald ist sich unsicher, ob das Gesicht so ganz gut getroffen ist.
Elfie Bauer: Ihr Traummann war Gerd Müller nicht, ein Idol aber trotzdem
Für die 71-jährige Elfie Bauer ist jetzt der Moment für ihr Foto: Sie legt den Arm auf dem muskulösen Oberschenkel ab, den anderen reckt sie zur Faust in die Höhe. Ihrer Meinung nach passt das Gesicht der Statue nicht so ganz. Doch sie freut sich riesig, dass das Denkmal nun steht. Seit 1965 sei sie FC-Bayern-Anhängerin. Gerd Müller sei in ihrer Jugend zwar nicht ihr Traummann gewesen – "da stand Beckenbauer an erster Stelle" – doch ein Idol, sie habe ihn oft im Stadion gesehen.
Bauer erinnert sich noch, als im Fernsehen eine Szene in seinem Wohnhaus gedreht wurde, mit Müllers Mutter und seiner Uschi. Als er nach seiner Leibspeise gefragt wurde, habe er gesagt "Kartoffelsalat". Wenn es diesen im Hause Bauer zu Essen gibt, dann spricht Elfie Bauer nicht einfach vom Kartoffelsalat, nein, dann gebe es "Kartoffelsalat Müller."
Kurz nach 23 Uhr sind die meisten Partygäste gegangen, zwei junge Männer bleiben vor der Statue stehen: "Ist gut geworden." Der Trubel ist vorbei. Am nächsten Morgen wird das Denkmal schon vor die Grundschule Mitte versetzt. Doch für diese Nacht hat sie ihre Ruhe, die Statue vom Hadde.