Dankbar sei sie, sagt die Angeklagte. Dankbar, dass sie hier Stellung beziehen dürfe. Eine ungewöhnliche Aussage. Die 53-Jährige ist Mitglied der Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme und sitzt im Nördlinger Amtsgericht auf der Anklagebank, da sie im Juli 2013 ihren damals neun Jahre alten Sohn mit einer Rute geschlagen haben soll. Ein heimlich aufgenommenes Video eines RTL-Reporters beweist, dass es so war. Ganz neu ist diese Situation nicht. Es standen schon Mitglieder und eine Aussteigerin der Sekte wegen gleicher Delikte vor Gericht. Zumindest die Mitglieder hatten bislang stets zu den konkreten Vorwürfen geschwiegen oder sie bestritten.
Dieses Mal ist das anders. Dieses Mal räumt die Mutter ohne Umschweife ein, ihrem Sohn vor zweieinhalb Jahren zweimal auf den Hintern geschlagen zu haben. Sie räumt ein, damit gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Und sie erzählt von ihrem Leben bei den Zwölf Stämmen, die für sie keine Sekte sind, sondern eine Gemeinschaft, die an einen „guten und gerechten Gott“ glaube und in der Kinder sich geborgen fühlten.
Ein Teil der Kindererziehung der Gemeinschaft, erzählt die Mutter, sei die Züchtigung, so wie sie in der Bibel beschrieben werde. Aber sie, die Mutter, habe zur Zeit der Tat nicht einmal gewusst, dass sie damit gegen deutsches Recht verstoße. Dass es seit 2000 ein Gesetz gebe, dass jegliche körperliche Bestrafung von Kindern verbietet. Die Mutter stockt immer wieder, als sie über ihre beiden Kinder spricht. Davon, dass diese im September 2013, wie damals alle Kinder der Zwölf Stämme, von der Polizei und Mitarbeitern des Jugendamtes aus der Gemeinschaft genommen wurden. Ihre Tochter ist mittlerweile wieder zurück bei der 53-Jährigen, der Sohn lebt weiter bei einer Pflegefamilie.
Der Vortrag der Angeklagten hinterlässt Eindruck. Jugendrichter Gerhard Schamann betont mehrfach, er nehme ihre Aussage mit Interesse zur Kenntnis, Staatsanwalt Matthias Ernst sagt in seinem Plädoyer, er halte die Einlassungen für glaubhaft. Letztlich sei es aber so, dass man sich in einem Rechtsstaat an die Gesetze halten müsse. Verteidiger Rüdiger Prestel regt an, das Verfahren einzustellen. Dazu kommt es nicht, da der Staatsanwalt das Ansinnen ablehnt.
Zwölf Stämme-Prozess: Angeklagte hatte Strafbefehl nicht akzeptiert
Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme"
Die "Zwölf Stämme" (The Twelve Tribes) sind eine urchristliche Glaubensgemeinschaft, die in den 70er Jahren in den USA gegründet wurde.
Die Anhänger der "Zwölf Stämme" leben streng nach der Bibel, die sie wortwörtlich auslegen. Sie sind fest davon überzeugt, dass ihr Glaube der einzig Richtige ist.
"Grundlage unseres Lebens ist der Gehorsam zu den Worten Jahschuas , des Messias, so wie sie in der Bibel, dem Wort Gottes, niedergeschrieben sind", schreiben die "Zwölf Stämme" über sich selbst.
Die Zwölf Stämme haben weltweit etwa 2000 Mitglieder, davon etwa 100 in Deutschland.
Mitglieder der Zwölf Stämme leben und arbeiten in streng hierarchisch aufgebauten Kommunen zusammen.
Eine dieser Kommunen wohnt seit 2000 im Gut Klosterzimmern im Kreis Donau-Ries.
Die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ weigern sich, ihre Kinder in staatliche Schulen zu schicken. Die Gemeinschaft begründet dies mit ihrer Religion, macht „Gewissensgründe“ geltend. Ein Grund ist der Sexualkundeunterricht.
"Unsere Religion hat sich nicht in den Staat einzumischen und umgekehrt sollte sich der Staat nicht in unsere Religion einmischen", ist eine weitere Aussage der "Zwölf Stämme" .
Ab 2006 unterrichteten die Zwölf Stämme in Klosterzimmern ihre Kinder in einer Privatschule.
Wegen des Verdachts, sie würden ihre Kinder züchtigen, haben die "Zwölf Stämme" immer wieder Ärger mit Polizei und Justiz. Die Mitglieder bestreiten die Vorwürfe.
Als 2013 ein Video auftaucht, auf dem festgehalten ist, wie Mitglieder ihre Kinder mit Ruten schlagen, holen Polizisten alle 40 Kinder der Sekte ab und bringen sie in Pflegefamilien unter.
Im September 2015 kündigen die "Zwölf Stämme" an Deutschland zu verlassen und nach Tschechien zu ziehen. Die Sekte hofft, dort ihren Glauben frei ausleben zu können.
Dass es überhaupt einen Prozess gibt, liegt daran, dass die Angeklagte einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft nicht akzeptierte. Der hätte für sie eine neunmonatige Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener bedeutet. Richter Gerhard Schamann reduziert diese Strafe schließlich und verurteilt die Angeklagte zu sechs Monate Haft auf Bewährung, die Mindeststrafe bei gefährlicher Körperverletzung.
Zudem muss die 53-Jährige entweder 120 Stunden gemeinnützige Arbeit verrichten oder 1000 Euro zahlen. Schamann folgt damit größtenteils dem Plädoyer von Staatsanwalt Ernst. Den Tatbestand der Misshandlung Schutzbefohlener lässt er hingegen fallen. Verteidiger Prestel verzichtete darauf, auf ein konkretes Strafmaß zu plädieren, sah in den Taten aber allenfalls eine normale Körperverletzung.
Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht, und bislang war es so, dass in allen Strafverfahren um die Zwölf Stämme sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschat in Berufung gingen. Noch in dieser Woche steht vor dem Amtsgericht zugleich der nächste Prozess gegen ein Mitglied der Sekte an. Die Vorwürfe gegen eine 55-jährige Lehrerin sind in dem Fall gravierend. Sie soll bis 2013 insgesamt sechs Kinder mit Ruten geschlagen und ihnen Schmerzen zugefügt, zum Teil aber auch „bis heute andauernde psychische Beeinträchtigungen verursacht“ haben.