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Nördlingen: Als das Malen zur Überlebensstrategie eines Nördlingers gehörte

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Als das Malen zur Überlebensstrategie eines Nördlingers gehörte

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    Allein mit der Natur. – Fernab von der Gemeinschaft mit Menschen, von jedem überflüssigen Wort, steht man der mächtigen Welt von Eis und Schnee allein gegenüber.
    Allein mit der Natur. – Fernab von der Gemeinschaft mit Menschen, von jedem überflüssigen Wort, steht man der mächtigen Welt von Eis und Schnee allein gegenüber.

    „An der Grenze leben, Martyrium und Mysterium“ - mit diesen Worten wurde einmal der Bilderzyklus des gebürtigen Oberbayern und späteren Nördlinger Kunsterziehers Josef Stühler (1910 - 1982) charakterisiert.

    „Die Bilder der Einsamkeit“ entstanden im Krieg, als der 31-jährige Gymnasiallehrer von September 1942 bis Dezember 1944 an der finnischen Eismeerfront nördlich des Polarkreises eingesetzt war und mit seiner dort stationierten Einheit drei Winter in der eisigen Nordlandschaft ausharren musste. In der Einleitung zu den unter schwierigsten Bedingungen entstandenen Bildern schreibt der Künstler: „Hier findest du keine Reiseerlebnisse, kein Tagebuch über Heldentum und rühmenswerte Taten. Vielleicht wirst du an die Wurzel menschlichen Seins geführt – dorthin, wo man anfängt glücklich zu sein, weil man noch lebt. Dort gibt es keine Menschen mehr, dort gibt es auch keinen Krieg, das Land ist zu weit, zu leer, ist eisig und einsam. Jeder muss aber Krieg führen gegen die Natur – du bist untrennbar verbunden mit ihr – du kannst ihr nicht entrinnen – du weißt nicht, ob du jemals wieder herauskommst…“

    Schriftliche Erinnerungen

    Welche Bedeutung diese an der Front entstandenen Bilder für Josef Stühler hatten, lässt sich aus seinen schriftlich niedergelegten Erinnerungen an diese Zeit ermessen: „Meine Bilder, in denen ich meine ganzen Empfindungen dieser Jahre, meine Naturerlebnisse, das Wunder der Polarnächte, die Verlassenheit in der Einsamkeit des Nordens zeichnete und malte, gaben meinem irrsinnigen Einsatz in der Welt des Schweigens einen Inhalt, meinem Dasein einen Sinn.“

    Nordlicht über den Bergen von Narvik. – Über den mächtigen Bergriesen Nordnorwegens geistern die Schleier des Nordlichts, durchdringen sich und verlieren sich irgendwo im Raum.
    Nordlicht über den Bergen von Narvik. – Über den mächtigen Bergriesen Nordnorwegens geistern die Schleier des Nordlichts, durchdringen sich und verlieren sich irgendwo im Raum.

    Bald zeigten sich bei den Soldaten, die in der menschenleeren Bergeinsamkeit in nur unzureichend gegen die Kälte abgedichteten Zeltbehausungen leben mussten, psychische Schäden. „Die monatelang währende Nacht, die Kälte und die primitive Lebensweise schlagen sich auf das Gemüt der Leute, sie fangen an zu sinnieren, wollen Menschen sehen, die es aber in dieser Eiswüste nicht gab, sie drehen durch, verzweifeln, begehen Selbstmord durch Flucht.“ Josef Stühler versucht dem „Polarkoller“ entgegenzuwirken. „Ich arbeitete erst theoretisch ein Programm aus, das ich dann in meiner Umgebung praktisch zu verwirklichen suchte. Da mir jegliche Mittel fehlten, war mein Programm ziemlich primitiv. Dennoch, Vorträge und gewisse künstlerische Übungen halfen manchen, die noch ansprechbar waren, über das Schlimmste hinweg. Vor allem die Jungen, die diese Einsamkeit am stärksten spürten, waren sehr dankbar für jedes Wort. Es gab auch manchmal sonderbare Situationen, wenn ich als einfacher Gefreiter vor Offizieren oder dem General Vorträge hielt.“

    Dank für glückliche Heimkehr. – Entwurf für ein Kirchenfenster.
    Dank für glückliche Heimkehr. – Entwurf für ein Kirchenfenster.

    Nicht nur die unwirtliche Natur wirkte sich auf die dort stationierten Soldaten demoralisierend aus, hinzu kam die immer hoffnungsloser werdende Kriegssituation. „Sonderbar, die Sinnlosigkeit war jedem klar und doch sprach man wenig darüber.“

    Nachdem es an der Eismeerfront bis zum Herbst 1944 relativ ruhig war – der Kampf gegen die Natur erschien oft härter als das eigentliche Kriegsgeschehen – änderte sich die Situation im September 1944 schlagartig. Da Finnland, bisher deutscher Verbündeter, am 5. September kapituliert hatte, kreisten die Russen die deutschen Stellungen im unbewohnten Norden des Landes ein. Die eingeschlossenen Soldaten versuchten befehlsgemäß, jeder auf eigene Faust zu entkommen.

    Josef Stühler als Gefreiter im Zweiten Weltkrieg.
    Josef Stühler als Gefreiter im Zweiten Weltkrieg. Foto: Johannes Meyer

    Auf dem wochenlangen, anstrengenden Fußmarsch über das Nordkap bis Hammerfest durch den hüfthohen Schnee war für Josef Stühler die Rettung der für ihn so wertvollen Aquarelle ein großes Anliegen, hatte er sie doch beim überstürzten Aufbruch aus dem Lager in letzter Minute zusammengerollt im Rucksack aus dem brennenden Zelt retten können und insgesamt 14 Tage im Marschgepäck mitgeschleppt. Aber bevor als letzter, anstrengendster Teil des Rückzuges die Überquerung des Gebirges begann, konnten die Soldaten nur das Notwendigste behalten und trennten sich von ihrem Gepäck, was Stühler sichtlich schwer fiel.

    Ein Lastwagen, der im Sammellager am Fuß des Gebirges zur Gepäckaufnahme bereitstand, sollte an der Küste entlangfahren, während die Soldaten die äußerst beschwerliche, aber kürzere Strecke über die Berge nahmen. Stühler schreibt in der Rückschau: „Was jetzt geschah, hört sich an wie ein Wunder – und sicherlich war es auch eines. Nach einem langen Marsch im Schnee fielen mir kleine, rundliche, völlig zugeschneite Erhebungen auf, die sich sehr deutlich von der umgebenden Geländestruktur unterschieden. Ich beseitigte den Schnee – es waren Rucksäcke und der meine war auch dabei. Alles unversehrt – mein erster Blick – die eingerollten Bilder, ich hab sie wieder. “

    Nach dem Krieg konnte Josef Stühler, der bis 1973 am Nördlinger Gymnasium vielen Schülern die Begeisterung für die Kunst zu vermitteln suchte, die Bilder aus der Erinnerung heraus überarbeiten und vervollständigen. So wurde aus einmal verlorener Zeit Gewinn und Geschenk – auch für nachfolgende Generationen.

    umfasst 47 mit kurzen Texten versehene Bilder, die demnächst als Buch mit dem Titel „Bilder der Einsamkeit“ erscheinen werden. Das hat Stühlers Tochter Angelika Stühler dieser Tage angekündigt. Unsere Bildunterschriften enthalten die Originaltitel der Bilder und die dazugehörigen Gedanken des Künstlers.

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