Deutschland und die anderen EU-Staaten ringen vor dem Hintergrund stark steigender Migrationszahlen um eine Reform des gemeinsamen Asylsystems. Gelingt nach jahrelangem Streit endlich ein Durchbruch? An diesem Donnerstag kommen die Innenministerinnen und Innenminister zu einem mit Spannung erwarteten Treffen in Luxemburg zusammen.
Worum geht es?
Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 ist klar, dass die geltenden EU-Asylregeln überarbeitet werden müssen. Damals waren Länder wie Griechenland mit einem Massenzustrom an Menschen aus Ländern wie Syrien überfordert und Hunderttausende konnten unregistriert in andere EU-Staaten weiterziehen. Dies hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn nach der sogenannten Dublin-Verordnung sollen Asylbewerber da registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten haben. Dieses Land ist in der Regel auch für den Asylantrag zuständig.
Was soll nun passieren?
Kern der Reformvorschläge sind Maßnahmen, die zu einem deutlichen Rückgang des Zustroms von Menschen ohne Anrecht auf Schutz führen sollen. Wer aus einem Staat einreist, der als relativ sicher gilt, könnte künftig nach dem Grenzübertritt in eine streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtung kommen. Dort würde dann innerhalb weniger Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat - wenn nicht, würde er umgehend zurückgeschickt werden. Zudem soll die Überwachung und Abschiebung abgelehnter Asylsuchender erleichtert werden - zum Beispiel, in dem mehr Daten über sie gesammelt und zentral gespeichert werden.
Um wie viele Menschen geht es?
Die Zahl der Asylanträge in der EU stieg nach einem Rückgang während der Corona-Pandemie zuletzt wieder deutlich an. Im vergangenen Jahr wurden in den 27 Mitgliedstaaten 881 200 Erstanträge gestellt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies ein Plus von 64 Prozent. Stattgegeben wird im EU-Schnitt nicht einmal jedem zweiten Antrag.
Wo kommen derzeit die meisten Migranten an?
Besonders betroffen ist Italien. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR wurden dort in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Migranten registriert. Die meisten von ihnen kamen aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch und hatten damit so gut wie keine Aussichten auf eine legale Bleibeperspektive.
Was soll künftig mit Schutzsuchenden passieren, denen beim Grenzübertritt Chancen auf Asyl eingeräumt werden?
Sie würden nach den derzeitigen Plänen wie bisher ein normales Verfahren durchlaufen, also in der Regel in den Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen. Wenn Länder mit einem sehr großen Zustrom an Menschen konfrontiert sind, sollen sie allerdings über einen Solidaritätsmechanismus Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten beantragen können. Eine bestimmte Anzahl an Schutzsuchenden würde dann über einen Verteilungsschlüssel in andere Länder kommen. Staaten, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssten für jeden nicht aufgenommenen Menschen eine Kompensationszahlungen leisten. Im Gespräch waren zuletzt Summen um die 20.000 Euro pro Person.
Warum gestalten sich die Verhandlungen so schwierig?
Grund sind unterschiedliche Interessen und Einstellungen zur Migration in den EU-Staaten. Derzeit besonders stark von Migration betroffene Länder wie Italien wollen nur dann mehr Verantwortung bei den Verfahren im eigenen Land übernehmen, wenn sie im Gegenzug mehr Solidarität anderer Länder garantiert bekommen. Ihr Druckmittel ist die derzeitige Situation, in der viele Migranten nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Tunesien einfach in andere Länder wie Österreich, Deutschland oder Frankreich weiterreisen können. Länder wie Ungarn wollen hingegen die EU-Außengrenzen am liebsten ganz dicht machen und sich nicht an der Umverteilung von Flüchtlingen beteiligen.
Was ist mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine?
Menschen aus der Ukraine genießen in der EU wegen einer Sonderregelung vorübergehenden Schutz, ohne dass sie Asyl beantragen müssen. Für sie haben die Diskussionen derzeit deswegen keine unmittelbare Bedeutung.
Was will die Bundesregierung?
Mit den meisten Vorschlägen, die aktuell auf dem Tisch liegen, kann die Bundesregierung gut leben. Deutschland will aber zum Beispiel durchsetzen, dass nicht nur unbegleitete Minderjährige von den Grenzverfahren ausgenommen werden, sondern auch Familien mit Kindern, wenn mindestens ein Kind minderjährig ist. Für diese Forderung aus Berlin gibt es im Kreis der Mitgliedstaaten allerdings wenig Unterstützung.
In Deutschland umstritten ist auch die vorgeschlagene Sichere-Drittstaaten-Regelung. Danach könnte beispielsweise jemand, der aus Ghana stammt und mit einem Schlepperboot von Tunesien nach Italien kommt, nach Tunesien zurückgeschickt werden, vorausgesetzt Tunesien wäre dazu bereit und würde als sicherer Staat angesehen.
Wie argumentiert die Bundesregierung?
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) weist mit Blick auf die Grenzverfahren darauf hin, dass dies eine relativ kleine Gruppe sei. Sie sagt: "Was man eigentlich generell beobachten kann, ist, dass die Menschen mit einer hohen Schutzquote, die kommen in der Regel mit ganzen Familien und Kindern aus Afghanistan, aus Syrien, aus Kriegsgebieten." Diejenigen, die aus Staaten mit geringer Anerkennungsquote kämen - und nur für die gelte ja das Grenzverfahren - kämen in der Regel nicht mit Kindern.
Was ist mit der Kritik von einigen Grünen und SPD-Politikern, die eine Aushebelung des Flüchtlingsschutzes befürchten?
In der Ampel-Koalition gibt es Meinungsverschiedenheiten. Entsprechend schwierig war die Festlegung einer gemeinsamen Verhandlungsposition. Auf die Kritik, die vor allem aus den Reihen der Grünen kommt, angesprochen, sagte Faeser diese Woche kurz und knapp: "Wir haben eine geeinte Position. Auf dieser Basis verhandele ich." Unklar ist, was passiert, wenn eine Mehrheit der Mitgliedstaaten Familien mit Kindern nicht aus dem Grenzverfahren ausschließen will. Wenn Deutschland sich dann bei der Abstimmung zur Reform enthält, könnte sie daran scheitern.
Würden durch die Reform weniger Asylsuchende nach Deutschland kommen?
Das ist noch schwer zu sagen. Deutschland müsste vermutlich über den Solidaritätsmechanismus Menschen aus den Außengrenzstaaten aufnehmen. Zugleich könnten viel weniger Menschen auf illegalem Weg kommen. Außerdem würde Deutschland profitieren, wenn - was diskutiert wird - die Rücküberstellungen nach den Dublin-Regeln vereinfacht werden.
Wie sind die Erfolgsaussichten auf eine Einigung?
Die Verhandlungen gestalten sich wegen der unterschiedlichen Interessen extrem schwierig. Bis zuletzt war unklar, ob die Innenministerinnen und Innenminister am Donnerstag wirklich einen Beschluss treffen können. Voraussetzung dafür wäre, dass 15 von 27 Mitgliedstaaten mit Ja stimmen, wobei diese zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen müssen. Wenn sich keine ausreichend große Mehrheit abzeichnet, müssten die Verhandlungen noch einmal fortgesetzt werden.
Gibt es eine Frist für die Verhandlungen?
Wenn der EU-Ministerrat bis zur Sommerpause keinen Beschluss fasst, dürfte es kaum noch eine Chance geben, das Reformprojekt in absehbarer Zeit über die Ziellinie zu bringen. Grund ist, dass es auch noch Verhandlungen mit dem Europaparlament darüber geben muss und dieses im Juni 2024 neu gewählt wird. Gib es keine Einigung, könnte es sein, dass an weiteren EU-Binnengrenzen Grenzkontrollen angeordnet werden, so wie aktuell schon an der deutsch-österreichischen Landgrenze.
(Von Ansgar Haase und Anne-Béatrice Clasmann)