In den USA steigt die Zahl der mit Vogelgrippe infizierten Rinder. Mehr als 130 erfasste H5N1-Infektionen in einem Dutzend US-Bundesstaaten gibt es nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC inzwischen. Noch immer sei die Datenlage zu den Übertragungen dünn und Gegenmaßnahmen liefen nur schleppend an, bemängelt der Vizepräsident des Friedrich-Loeffler-Instituts (FLI), Martin Beer. Bekommen die USA den Erreger nicht in den Griff, "hätte man unter Umständen weltweit eine völlig neue Rinderkrankheit".
Das Virus H5N1 kursiert seit Jahrzehnten verstärkt unter Vögeln - zunächst in Asien, inzwischen nahezu weltweit. Wasserbüffel oder andere Rinder-Arten habe es in all den Jahren nie befallen, sagt Beer. 2021 gelang dem Erreger der Sprung nach Nordamerika - und plötzlich, erstmals wohl im Herbst 2023, erkrankten Kühe. Forscher sind überrascht und zunehmend besorgt.
Was bedeutet der Sprung auf Rinder?
Weltweit werden 1,5 Milliarden Rinder gehalten, wie Beer sagt. Entstünde aus H5N1 eine neue, global auftretende Rindergrippe, stiege auch das Risiko für andere Nutztiere - etwa, wenn verunreinigte Rohmilch an Schweine verfüttert wird. Hinzu kommt: Ein Säugetier ist dem Menschen biologisch näher als ein Vogel. Das Zoonose-Risiko - also das Risiko für einen Übergang vom Tier auf den Menschen - kann abhängig von den erfolgten Anpassungen größer sein, wie Beer erklärt.
Um was für ein Virus geht es?
H5N1 ist ein Influenza-A-Virus wie die beim Menschen kursierenden Erreger der saisonalen Grippe. H und N bezeichnen zwei Eiweiße der Virushülle: Hämagglutinin und Neuraminidase. Sie kommen jeweils in verschiedenen Subtypen vor (H1 bis H16 und N1 bis N9). Der Name H5N1 bedeutet also die Kombination der Eiweiße H5 und N1 auf der Oberfläche der Variante.
Seit 1997 werden verstärkt auf H5N1 zurückgehende Ausbrüche erfasst, wie FLI-Experte Beer erklärt. Seit 2016 breite sich eine Untervariante des Erregers aus, die sogenannte Klade 2.3.4.4b. Folge waren verheerende Vogelgrippe-Ausbrüche in inzwischen fast allen Teilen der Welt bei Wildvögeln, auch Geflügel und - seltener - Säugetiere wie Meeressäuger, Nerze, Füchse und Bären waren betroffen. Verschont blieb - bisher - nur Australien.
Wie passierte der Sprung zum Rind?
Nach derzeitigem Analysestand gehe der Ausbruch in den USA womöglich auf einen einzelnen Eintrag zurück, erklärt Beer. Wie diese Übertragung vom Wildvogel auf eine Kuh ablief, etwa über verunreinigtes Futter, kontaminierte Einstreu oder direkten Kontakt, sei unklar. Doch eines wissen Forscher inzwischen: "Gelangt das Virus ins Euter, vermehrt es sich dort sehr stark", sagt Beer.
Das liege auch an den Rezeptoren im Euter: Anders als etwa die in der Rindernase seien sie perfekte Andockstellen für die H5N1-Variante - ähnlich wie die Rezeptoren bei Vögeln. "Das Euter ist für das Virus quasi ein Huhn." Über verunreinigtes Melkgeschirr gelange der Erreger zu anderen Milchkühen, durch Transporte in immer neue Betriebe und Regionen.
Wie ist die Situation in den USA zu beurteilen?
Noch lasse sich nicht absehen, ob die schleppend beginnenden Gegenmaßnahmen in den USA rechtzeitig greifen. "Es kann sein, dass der Spuk in einiger Zeit vorbei ist", sagt Beer. "Wenn das Virus inzwischen nicht schon lernt, effizient über die Nase von Rind zu Rind weitergegeben zu werden." In diesem Fall lasse sich eine weitere Verbreitung nur noch schwer stoppen.
Bei Tests und Schutzmaßnahmen existiere ein Flickenteppich an Regeln, ein umfassendes, USA-weites gezieltes Suchen nach infizierten Rindern und strenge Sperrmaßnahmen gebe es bisher nicht. "In Europa wäre das einheitlicher", sagt Beer. Auch gebe es hier - ein Erbe aus der Zeit der Rinderseuche BSE - quasi das "gläserne Rind", also eine durchgängige Nachverfolgbarkeit aller Rinder mit einer eindeutigen Kennzeichnung und entsprechende Datenbanken. In den USA fehle das.
Die US-Behörden scheinen weit davon entfernt, die Verbreitung der Vogelgrippe unter Rindern schnell zu stoppen. Zwar seien erste Überwachungsprogramme für mehr Tests initiiert worden, allerdings meist auf freiwilliger Basis, sagt Beer. "So etwas klappt eigentlich nur, wenn es verpflichtend ist. Sonst bleiben Lücken."
Liegen die eigentlichen Zahlen noch höher?
Aus der Analyse von Milchproben und anderen Hinweisen lasse sich schließen, dass es eine Dunkelziffer nicht erfasster Fälle gebe, so Beer. Viele US-Rinderfarmen sind riesig, teils werden deutlich mehr als 1.000 Tiere gehalten. Insgesamt gibt es darum nur rund 26.000 Milchviehbetriebe, wie Beer sagt. Zum Vergleich: Allein in Bayern seien es auch etwa 26.000, deutschlandweit rund 50.000.
In einem Massenbetrieb fallen Infektionen nicht unbedingt sofort auf - und Farmer sind nicht erpicht darauf, im Zuge von Nachweisen womöglich den ganzen Betrieb lahmgelegt zu bekommen. Bei möglichen Übertragungen auf Menschen kommt hinzu, dass in den USA regional viele Illegale in Betrieben arbeiten - die auch mit entsprechenden Symptomen einen Arztbesuch eher meiden.
Können sich Menschen bei Rindern anstecken?
Drei Fälle bei Menschen wurden laut CDC im Kontext des Ausbruchs in US-Milchviehhaltungen bisher erfasst. Jedes Mal sei eine Bindehautentzündung eines der Symptome gewesen, erklärt Beer. "Der Mensch hat die Vogelgrippe-Rezeptoren im Auge." Fasst sich ein Arbeiter zum Beispiel beim Melken ans Auge, kann der Erreger andocken.
Pasteurisierte Milch gilt als unbedenklich, wie gerade eine im "Journal of Virology" vorgestellte Studie bestätigte. In 20 Prozent der etwa 300 untersuchten pasteurisierten Milchprodukte aus 132 US-Verarbeitungsbetrieben wurden demnach nicht-infektiöse Spuren des viralen Erbguts gefunden, infektiöses Virus in keinem einzigen Fall.
Eine Infektion über Rohmilch gilt hingegen als möglich. Farm-Katzen haben sich in den vergangenen Monaten schon häufig über aufgeschleckte Rohmilch angesteckt. In zahlreichen der erfassten Fälle starben sie, wie Beer sagt. "Das Virus infiziert bei ihnen meist auch das Gehirn." Ganz neu sei diese Erkenntnis nicht: Auch in Polen und Südkorea habe es schon Vogelgrippe-Ausbrüche bei Katzen gegeben - immer über kontaminierte Nahrung, bisher nicht von Katze zu Katze.
Anders ist das bei bestimmten Meeressäugern sowie für die Pelztierzucht gehaltenen Arten wie Nerz und Polarfuchs. Für Meeressäuger gelten Übertragungen zwischen Artgenossen als hoch wahrscheinlich, bei Tieren in Pelztierfarmen als weitgehend gesichert, wie Beer sagt.
Auch bei ihnen stehen neurologische Symptome, also Hirnschäden, im Vordergrund. Der Anteil tödlich erkrankter Tiere ist hoch. "Bei den sehr seltenen Fällen beim Menschen gibt es solche neurologischen Symptome nicht, sondern eher die für eine Grippe klassischen Atemwegsprobleme."
Wie groß ist das Risiko für Deutschland?
Bisher sind H5N1-Infektionen nur von Rindern in den USA bekannt. Da weder Kühe noch Rohmilch nach Europa importiert würden, sei das Risiko einer Einschleppung gering, sagt Beer. Von importiertem Rindfleisch gehe nach derzeitigem Stand keine Gefahr aus.
Versuche am FLI ergaben allerdings, dass auch die in Deutschland kursierende H5N1-Form Rinder infizieren kann. Das Virus habe sich im Euter vermehrt und Kühe hätten Krankheitssymptome wie Milchbildungsrückgang, Veränderung der Milchkonsistenz und Fieber gezeigt, teilte das Institut kürzlich mit. Die Risikoeinschätzung - sehr gering - ändere sich dadurch nicht. In diese Einschätzung spielt hinein, dass es - anders als etwa in Nord- und Südamerika - derzeit keine größere H5N1-Welle unter Wildvögeln in Europa gibt. "Es ist so ruhig wie seit Jahren nicht mehr", sagt Beer. "Seit einigen Wochen nimmt die Zahl der Nachweise ganz deutlich ab."
Womöglich habe sich vorerst eine Art Herdenimmunität aufgebaut. Ein Sommerloch bei den Infektionen war lange Zeit typisch für die Vogelgrippe - bis die Klade 2.3.4.4b ihren Zug um die Welt begann. Doch irgendwann werde die Population wieder empfänglich für eine nächste Welle sein, so Beer.
Was bedeutet 2.3.4.4b in der Summe für den Menschen?
So viel Tierleid mit 2.3.4.4b verbunden ist - für Menschen ist die Variante zunächst harmloser als zuvor kursierende H5N1-Formen. Der Erreger sei stark an Vögel angepasst, erklärt Beer. Seit 2016 habe es durch Viren dieser Klade weniger als 20 erfasste und meist milde Infektionen bei Menschen gegeben - bei anderen Varianten zuvor seien es hunderte gewesen.
Das Virus an sich ist also harmloser für Menschen - und doch auch nicht, weil es schon wegen der schieren Masse an Infektionen in Vogelpopulationen öfter den Weg zu Säugetieren findet. Die können eine Art "Mischbatterie" sein, wie Beer erklärt: Sei etwa ein Nerz oder ein Schwein mit verschiedenen Influenza-A-Formen infiziert, könne ein neuer, für Menschen gefährlicherer Erreger entstehen.
"Es ist schon sehr wichtig, dass man H5N1 auf dem Schirm hat", so Beer. Auf den Risikolisten für eine Vogelgrippe-Zoonose liege der Erreger aber "nur" im Mittelfeld: Von H7N9, das in seltenen Fällen bereits von Mensch zu Mensch übertragen wurde, und H5N6, das ebenfalls bereits bei Menschen auftrat, sowie einigen Schweineinfluenza-Viren gehe nach aktueller Einschätzung ein größeres zoonotisches Risiko aus.
Wo ist scharfe Beobachtung nötig?
"Pelztierfarmen sind ein Faktor, der lange viel zu wenig im Blick war", betont Beer. Analysen aus China zeigten, dass unter den Tieren eines solchen Betriebes alle möglichen Influenzaviren kursieren können - was zu einem potenziell gefährlichen Gemisch führen könnte.
In Dänemark und den Niederlanden sei die Haltung nach zahlreichen Corona-Infektionen bei Pelztieren im Zuge der Pandemie noch immer gestoppt, in Deutschland gebe es ohnehin keine. In Finnland würden solche Farmen nach den Problemen mit Sars-CoV-2 und H5N1 umfassend überwacht.
"Doch es gibt viele Pelztiere in Ländern mit sehr wenig Überwachung", gibt Beer zu bedenken. China zum Beispiel produziere einige Millionen Nerzfelle jährlich. Hinzu kämen unter anderem Millionen Marderhunde und Füchse. Auch Belarus sei ein großer Produzent ohne transparente Überwachung.
Was würde uns bei einem Sprung auf den Menschen erwarten?
Die genauen Eigenschaften eines möglichen Erregers lassen sich nicht voraussagen. Klar ist aber: Es wäre nicht die erste große Influenza-A-Pandemie. Insgesamt vier gab es seit 1900: 1918/19 die Spanische Grippe (H1N1), auf die 1968 die Hongkong-Grippe (H23N2), 1977 die Russische Grippe (H1N1) und 2009/10 die Schweinegrippe (H1N1) folgten.
Wäre es wie bei der Corona-Pandemie?
"Die Situation ist eine ganz andere als bei Sars-CoV-2", erläutert Beer. Influenza-Stämme werden schon lange überwacht. Vorbeugend würden regelmäßig Kandidaten-Impfstoffe für eine schützende Impfung gegen potenziell eine Pandemie verursachende Varianten festgelegt. Ein solcher Impfstoff sei kürzlich von 15 EU-Ländern geordert worden. Vorsorglich geimpft werden damit bereits Mitarbeiter finnischer Pelztierfarmen.
Generell gilt, anders als beim Corona-Virus: "Man weiß schon sehr lange, was man machen muss für einen Influenza-Impfstoff", sagt Beer. Klassisch erfolge die Produktion in Hühnereiern, inzwischen werde auch an mRNA-Impfstoffen gearbeitet. Im Falle des Falles könnte es also schnell gehen mit einer Massenproduktion schützender Impfstoffe.
(Von Annett Stein, dpa)