Wer sehen möchte, wie nah Leid und Glück beieinander liegen, der gehe in den Zielbereich eines Triathlons. Schmerzverzehrte Gesichter, Menschen, denen direkt nach der Ziellinie die Beine zusammenklappen und die sich vor lauter Krämpfen nicht mehr in die Vertikale bewegen können auf der einen Seite. Auf der anderen aber auch Jubelschreie, Umarmungen und Glückstränen.
Andrea Freilinger ist gerade eineinhalb Kilometer im Ingolstädter Baggersee geschwommen, 42 Kilometer Richtung Egweil, Bergheim und zurück geradelt, sowie zehn Kilometer durch den Klenzepark und Teile der Altstadt gelaufen – in knapp zwei Stunden und 45 Minuten hat sie damit die Olympische Distanz gefinished. Doch im Ziel sieht sie aus, als wäre sie spazieren gewesen. Beide Arme reckt sie locker in die Luft und spreizt Zeige- und Mittelfinger zum Siegeszeichen, auf ihrem Mund ein breites Lächeln, um sie herum dagegen einige gequälte Gesichter. Bereits zum zehnten Mal ist die 49-jährige Unterstallerin beim Triathlon in Ingolstadt dabei, gemeinsam mit ihrem Mann Hans-Jürgen, der an diesem Sonntag gut 22 Minuten vor ihr ins Ziel kommt.
Einige Stunden früher ist der Baggersee noch ruhig und still, nur einige rote Bojen schwimmen im Wasser. In der Wechselzone stehen schon die Gefährte für später bereit, bunte Rennräder genauso wie futuristisch anmutende, schnittige Zeitfahrmaschinen, die mehrere tausend Euro wert sind, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Kurz darauf durchbrechen die tiefen Glockenschläge von ACDC’s „Hells Bells“ und der Startschuss von Oberbürgermeister Christian Scharpf die Ruhe und aus der stillen Wasseroberfläche wird eine schäumende Wettkampfarena.
Oberbürgermeister Christian Scharpf hat den Triathlon in Ingolstadt mit einem Startschuss eröffnet
Unter den Ersten, die sich in Neoprenanzug und Badekappe in den knapp 20 Grad warmen Baggersee stürzen, ist auch Fabian Mottl. Der 40-Jährige startet, wie auch Hans-Jürgen und Andrea Freilinger, für den TSV Neuburg – allerdings auf der Mitteldistanz (1,9 Kilometer Schwimmen, 78 Kilometer Radfahren und 20,2 Kilometer Laufen). Seine Vorbereitung lief gut, 16 Stunden hat er im Schnitt wöchentlich trainiert – trotz Vollzeitjob im Marketingbereich und zwei Kindern. Drei Ironmans über die Langdistanz hat er schon gefinished, auch im Winter trainiert der in Rosenheim wohnende, aber in Neuburg aufgewachsene viel, unter anderem Langlauf. „Ich habe eigentlich keine Off-Season“, verrät er. Am Tag vor dem Start in Ingolstadt dann ein kleiner Schock: Sein Fahrrad hat einen Reifenschaden. Zum Glück kann Schwager Stefan Rupprecht aushelfen.
Seine schwächste Disziplin, das Schwimmen, bringt Mottl in einer halben Stunde hinter sich. „Für mich lief es super im Wasser“, sagt er später. Raus aus dem See sprintet er auf dem roten Teppich an jubelnden Fans vorbei hinauf in die Wechselzone und zieht parallel dazu den Neoprenanzug zur Hälfte herunter. Neo runter, Helm rauf, Schuhe an und schon geht es aufs Rad. „Das war eine Speedstrecke, schwierig war nur der Wendepunkt in Bergheim“, sagt er. Während Mottl mit durchschnittlich knapp 40 Stundenkilometern die Straße entlang brettert, ziehen seine Vereinskollegen, die Freilingers, auf der Olympischen Distanz bereits ihre Kraulzüge durch den Baggersee. Für Andrea Freilinger sah es dagegen noch bis vor kurzem nicht nach einem Start aus. Mitte Mai fiel sie beim Reiten vom Pferd. Die Folge: Sechs Wochen kein Sport und das bei einer der trainingsintensivsten Sportarten überhaupt. „Neben dem Training haben wir eigentlich kaum Freizeit“, sagt auch ihr Mann Hans-Jürgen.
Über die neue Laufstrecke durch die Innenstadt haben sich die Athleten gefreut
Der 53-Jährige arbeitet als Bauingenieur in München und fährt die knapp 100 Kilometer lange Pendelstrecke von Unterstall gerne mit dem Rad, um die Zeit effektiv zu nutzen. In vergangenen Wintern sind die beiden der deutschen Kälte nach Mallorca oder Fuerte Ventura entflohen, um dort das nötige Trainingspensum abzuspulen. In Zeiten der Pandemie waren sie aber bei Minusgraden zum Indoortraining verdammt. „Ich habe mir zu Weihnachten eine Rolle gekauft“, sagt Hans-Jürgen und meint damit einen Rollentrainer, mit dem man in den eigenen vier Wänden trainieren kann.
Und auch die geschlossenen Schwimmbäder waren für die beiden nicht leicht. „Als die im Frühling wieder offen waren, haben wir uns wie Nichtschwimmer gefühlt“, sagt Hans-Jürgen. Mit viel Dehnen und Yoga kann sich seine Frau Andrea schließlich wieder fit machen und entscheidet sich nach einer Radreise im Schwarzwald doch für einen Start. „Sonst hätte ich ja gar kein Trikot bekommen“, sagt sie und lacht. Zum ersten Mal führt der Ingolstädter Triathlon durch Teile der Innenstadt. „Die neue Strecke ist super und wertet die Veranstaltung auf. Leider waren wegen Corona aber kaum Zuschauer an der Strecke“, sagt Fabian Mottl. Vor drei Jahren hat er bei einem Rennen in der Schweiz knapp die Qualifizierung für die Weltmeisterschaft auf Hawaii verpasst – Magen- und Kreislaufprobleme machten seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung. „Aber Hawaii ist immer noch ein Traum“, sagt er.
Als Erster bei der Mitteldistanz kam der Hesse Simon Huckestein über die Ziellinie
Als Mottl eine Viertelstunde, nachdem sich die drei Ersten, Simon Huckestein, Tom Hohenadl und Tobias Heinig gegenseitig mit Weißbier übergossen haben, mit seiner Tochter und seinem Neffen zu dröhnender Musik aus den Lautsprecherboxen über die Ziellinie läuft, ist er mehr als zufrieden. Gesamtplatz 20. Und wie er später erfährt, auch noch bayerischer Meister in der Altersklasse M40. „Richtig geil!“, schreibt er per Mail. Während sich die Zuschauer bei spätsommerlichen Temperaturen an den Verpflegungsständen mit Pizza, Burger und Getränken eindecken, kommen nach und nach auch die Starterinnen und Starter der Olympischen Distanz ins Ziel, als Erster natürlich der ehemalige Vize-Europameister Maurice Clavel. Eine halbe Stunde nach dem Freiburger stoppt auch Hans-Jürgen Freilinger seine Uhr an der Ziellinie ab.
Zum Triathlon kam er eher zufällig. Bei einem Preisausschreiben der Zeitschrift „Triathlon“ hat er vor 13 Jahren einen Startplatz in München gewonnen. „Dann musste ich erst einmal gut schwimmen lernen“, sagt er und lacht. Wie auch seiner Frau gefällt ihm vor allem die Abwechslung, die der Sport bietet. „Das ist auch gesünder für den Körper“, sagt Andrea Freilinger. Am liebsten drehen die beiden auf dem Rad ihre Runden im Altmühltal oder machen Intervalle in Hütting und Wellheim.
Der mit einem Bauzaun abgesperrte Zielbereich füllt sich derweil immer mehr mit Sportlerinnen und Sportlern – liegenden und humpelnden, aber auch lachenden und sich umarmenden. In dieser emotionsgeschwängerten Atmosphäre zieht Veranstalter Gerhard Budy ein positives Fazit: „Es war super. Nichts freut uns so, wie das viele gute Feedback der Athleten. Der Triathlon steht und fällt aber mit den Sponsoren und Helfern.“ 200 Ehrenamtliche haben in diesem Jahr Verpflegung ausgehändigt, die Wechselzone vorbereitet und vieles mehr.
Während sie am Abend alles wieder abbauen, laufen für Budy und sein Team bereits die Planungen für das nächste Jahr. Dann soll es einen richtigen City-Triathlon mit Ziel in der Innenstadt geben.
Lokalmatador Sebastian Mahr wurde Gesamtsiebter auf der Mitteldistanz. Hier ist er im Kurzinterview: