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Oberhausen-Sinning: Gefundene Briefe: Was ein Soldat aus Sinning an der Ostfront erlebte

Oberhausen-Sinning

Gefundene Briefe: Was ein Soldat aus Sinning an der Ostfront erlebte

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    Gestochen scharf und sehr gleichmäßig war Sollers Schrift. Nichtsdestotrotz ist sie nicht für jedermann lesbar.
    Gestochen scharf und sehr gleichmäßig war Sollers Schrift. Nichtsdestotrotz ist sie nicht für jedermann lesbar. Foto: Brigitte Clemens

    Es war ein Fund, mit dem Michael Gastl aus Sinning keineswegs gerechnet hatte, als er 2019 wegen Umbaumaßnahmen auf dem Dachboden seines Elternhauses stöberte. Im ersten Moment konnte er mit dem Karton, der eine Unmenge von Briefen in Sütterlinschrift enthielt, absolut nichts anfangen. Doch schnell stellte sich heraus, es sind Feldpostbriefe, die Gastls Großvater Sebastian Soller – im Zweiten Weltkrieg Soldat an der Ostfront – an seine Frau Wally und die Kinder Christine und Sebastian geschickt hatte. Sollers Auftrag, diese zu sammeln, wurde zwei Generationen lang akribisch ausgeführt.

    Obergefreiter Sebastian Soller aus Sinning hat die Briefe geschrieben.
    Obergefreiter Sebastian Soller aus Sinning hat die Briefe geschrieben.

    Dem lebhaften Interesse am Fund stand im Wege, dass die Schrift für Gastl kaum lesbar war. Hilfe kam vom historisch versierten Sinninger Ludwig Ried. Er sichtete, ordnete, las und stellte im April 2021 ein bemerkenswertes Geheft über die Jahre 1941 bis 1944 des Soldaten Soller an der Ostfront zusammen. Die Briefe waren nicht immer leicht zu entziffern, denn sie waren mit Bleistift, jeden verfügbaren Zentimeter Papier nutzend, meist nachts beim Schein einer Kerze verfasst worden.

    591 Feldpostbriefe waren Zeugnis von unfassbaren Ängsten, aber auch von der Hoffnung zu überleben, heimzukehren, von unbeschreiblichen Strapazen, die die normale Belastungsgrenze weit überschritten, von unsäglichem Leid und unvorstellbarer Grausamkeit, aber auch von kleinen Freuden des Alltags.

    Ludwig Ried hat die Feldpostbriefe gelesen und zusammengefasst

    Ried stellte sich der manchmal schon belastenden Aufgabe und schuf mit Fingerspitzengefühl ein fast 50-seitiges, bebildertes Geheft für die befreundete Familie Gastl, in dem er den Feldpostbriefen ein gutes Zeugnis ausstellt, den abwechslungsreichen Schreibstil lobt, aber anmerkt, dass es ihm schon nahe ging, da er ja in den Kriegsjahren aufgewachsen ist.

    Soller schrieb in vier Kriegsjahren nicht nur Briefe, er fieberte den Antworten, den Päckchen mit selbst gebackenen Kuchen, Gselchtem, Würsten, Fotos und Nachrichten aus der Heimat richtig entgegen. Die Antwortbriefe musste er dem Feuer übergeben, da der Tornister auf den langen, beschwerlichen Märschen durch Russland, die Slowakei, durch Teile Ungarns und Polens zu voluminös wurde.

    Feldpost konnte bis zu zwei Monate unterwegs sein und blieb oft an Sammelstellen liegen. Manchmal kamen mehrere Briefe auf einmal an, einmal waren es gleich zehn Päckchen. Wegen der unregelmäßigen Transporte nummerierten er und seine Frau die Sendungen. Kameraden, die in Heimaturlaub fuhren, nahmen auch Briefe mit. Diese waren unzensiert, enthielten Ortsangaben, schilderten detaillierter das Kriegsgeschehen und berichteten nicht nur über unspektakuläre Tagesabläufe.

    Es liest sich flüssig und leicht, wenn Soller von seiner Arbeit erzählt: „Zement ausladen, Baracken, Bahn und Betonstraße als Aufmarschstraße zur russischen Grenze bauen.“ Doch für einen Landwirt war das Brücken reparieren, Holz fällen, Stellungen ausheben, Vorgesetzte bedienen, Gefangene beaufsichtigen – mit dem Befehl zu schlagen –, Karren aus dem Dreck ziehen und marschieren zu jeder Tages- und Nachtzeit eine echte Herausforderung.

    Soldat aus Sinning erzählt über das Wetter, die Unterkünfte und das Essen

    Michael Gastl aus Sinning (links) darf zwei Schätze sein Eigen nennen. Zum einen 591 Feldpostbriefe, die sein Großvater Sebastian Soller aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause schickte, und deren „Transfer“ durch Ludwig Ried.
    Michael Gastl aus Sinning (links) darf zwei Schätze sein Eigen nennen. Zum einen 591 Feldpostbriefe, die sein Großvater Sebastian Soller aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause schickte, und deren „Transfer“ durch Ludwig Ried.

    Das Wetter, das natürlich durch mangelnde Ausrüstung besonders in den Fokus rückte, war auch stets interessant: „Verdammt kalte Winde“, schrieb er, von Schneestürmen, minus 42 Grad. Oder aber von Sommerhitze mit 40 bis 50 Grad in der Nähe des Kaspischen Meeres. „Enorme Staubmassen der Steppe hängen in den Kleidern, aber nicht immer ist eine Badegelegenheit zu finden. Es ist das Gebiet der Donkosaken und gleicht einer Wüste. Man trifft sogar schon größere Herden Kamele.“

    Sebastian Soller beschreibt in seinen Briefen immer wieder auch die Unterkünfte, in denen die Soldaten nachts ein bisschen Schlaf bekamen. „Übernachtet wird auf total verlotterten Kollektivgütern“ oder in dörflichen Ställen. Meist war es Schlafen auf Stroh, wenn die Läuse Ruhe gaben. Oft war Soller in Zelten, Gräben, Mulden oder im Wald der Witterung schutzlos ausgeliefert.

    Selbstkritisch, manchmal sogar mit gewissem Galgenhumor, charakterisierte er die Leute, mit denen er an der Front lebte: „Wir haben manches Mal wie Barbaren gehaust. In der Stadt Kiew, wo wir in modernen Wohnungen die schönsten Möbel als Brennholz benutzen oder auf dem Land der Bevölkerung mit geladenem Gewehr den letzten Mundvorrat herausgepresst haben. Ja, ein Krieg ist etwas Furchtbares.“

    Bei seinen Märschen erlebte er die Jahreszeiten, Landschaften und bäuerlichen Gehöfte im Feindesgebiet hautnah. Dadurch wurde in ihm das Schuldgefühl geweckt, nicht zuhause mitarbeiten zu können. Sein Gesuch um Unabkömmlichstellung blieb erfolglos.

    Feldpostbriefe: Eine Tafel Schokolade kostete dem Soldaten 10 Mark

    Rückzug, Vormarsch – nicht immer kamen die Soldaten problemlos vorwärts. Mit Fotos wie diesen hat Ludwig Ried die Dokumentation angereichert.
    Rückzug, Vormarsch – nicht immer kamen die Soldaten problemlos vorwärts. Mit Fotos wie diesen hat Ludwig Ried die Dokumentation angereichert.

    Am 21. Juni 1942 ging sein Brief erstmals mit Luftpostbriefmarke in die Heimat. Mit ihm schickte er nach dem Löhnungsapell 100 Mark nach Hause und meinte: „Kaufen kann ich in Charkow nichts. Doch das ist eine Lüge, denn haben kann man alles, aber zu unerschwinglichen Preisen. Ein Ei kostet 1,20 Mark, ein Kilo Brot 15, eine Tafel Schokolade 10 Mark. Dafür ist mir mein Geld zu schade.“

    Überhaupt war die Verpflegung immer wieder Thema. Nicht allzu oft konnte er berichten: „Es gibt Milch, Kartoffel und sogar öfters Gänse- und Entenbraten. Der Russe musste alles hinterlassen an Vieh und Getreide, was natürlich uns zugutekommt.“ Meist bedauerte er, dass alles ausgestorben war, kein essbares Tier mehr lebte, es nicht einmal Kartoffeln gab. Von Highlights berichtete er ausführlich: „Pfingsten 43 gab es sehr gutes Mittagessen: Suppe, Salzkartoffel, Gulasch und Erbsen. Als Nachspeise sogar Pudding mit Fruchtsoße. Der Nachmittag war frei. Pro Mann wurde eine Flasche Kümmel gegen Bezahlung ausgegeben und eine Tafel Schokolade.“ Immer wieder wurden die Soldaten mit zahlreichen Alkoholika, vor allem mit russischem Wodka, versorgt, bekamen Zigaretten. Soller hatte dafür viele Abnehmer und betonte immer, sich zurückzuhalten.

    Weihnachten musste er im ersten Kriegsjahr an der Ostfront verbringen. Das Musikprogramm einer von einer Propagandakompanie veranstalteten Weihnachtsfeier legte er einem Feldpostbrief bei, ebenso wie die Ansprache des Generalfeldmarschalls und Gedanken in Versform. Weihnachten 1942 bekam er den heiß ersehnten Heimaturlaub, der jedoch noch vor Heilig Abend am 23. Dezember wieder zu Ende war. Nach der letzten Maß Bier zu seinem 40. Geburtstag saß er bereits im Zug zurück nach Russland. Er schrieb an seine Frau: „Vier Tage im Zug, da tut der Hintern weh. Es wird kälter und dann geht’s mit 75 Mann im Viehwaggon weiter, wie Heringe zusammengepfercht.“

    Krieg an der Ostfront: Sebastian Soller überstand ihn mit einer Erkältung

    Nicht nur die körperlichen Belastungen standen im Vordergrund. Immer wieder schilderte er die Gräuel des Kriegsgeschehens, beschrieb tagelange Märsche, verfolgt von russischen Fliegern bei Schneesturm. Steckengebliebene Autos wurden gesprengt, damit sie Russen nicht in die Hände fielen. Kriegslärm, taghell erleuchtete Nächte, die Nähe zur Kampffront zerrte an den Nerven. Hinzu kam, dass Verwundete keiner mitnehmen wollte – viele starben. Soller überstand alles mit nur einem Katarrh.

    Das Kriegsgeschehen ereignete sich meist nachts. „Um 2 Uhr geht der Angriff los. Die Artillerie schoss, was aus den Rohren ging. Es war fürchterlich. Unsere Stukas und die Bomben wirkten bei den Russen verheerend. Die fliegen schon den ganzen Tag – als wäre die Hölle los. Am Donez haben die Russen beide Brücken zusammengeschossen“, schilderte er die Lage.

    Viele Fragen standen in seinen Briefen, denn um seine Liebsten zuhause war er stets besorgt, ging auf ihre Berichte ein. Den braven Kindern schickte er Drops, weil sie so gute Noten nach Hause brachten. Als er erfuhr, dass Rosshaar für die Bürstenherstellung daheim Mangelware war, erklärte er: „Ich hätte ein schönes Quantum gehabt von den Hunderten toter Pferde, die auf dem Rückmarsch zusammenbrachen.“ Neben seiner Sorge um die Landwirtschaft zuhause war er Berater in allen Lebenslagen, nahm Anteil an den persönlichen Geschicken seiner Familienmitglieder, der politischen Situation, dem Kriegsgeschehen zuhause, aber auch an den Veränderungen seines Heimatortes.

    Der letzte Brief von Soller erreichte Sinning im September 1944

    An der Front flossen die Informationen nicht so, wie er und seine Kameraden es sich wünschten. Die Soldaten besprachen täglich die Lage und verfolgten den Wehrmachtsbericht. „Aber der lautet bloß immer zu unseren Gunsten,“ beklagte er sich oft.

    Am 1. Juni 1944 wurde Soller zum Obergefreiten befördert. Statt die Karriereleiter hochzuklettern, wäre es ihm jedoch lieber gewesen, gleich mit den Pferden nach Hause zu fahren.

    Wally Soller mit ihren Kindern Sebastian und Christine. Das Foto entstand vermutlich 1942 bei Christines Erstkommunion.
    Wally Soller mit ihren Kindern Sebastian und Christine. Das Foto entstand vermutlich 1942 bei Christines Erstkommunion.

    Sollers letzter Feldpostbrief ging am 19. September 1944 auf Reisen. Häufige Überflüge der Russen waren der bewegende Leitgedanke. „Auf einem Hauptverbandsplatz leisten ein Arzt, 2 Schwestern und mehrere Sanitäter erste Hilfe. Sie kümmern sich meist um Kopfschüsse, denn die Bolschewiken sind gute Schützen.“

    Und solch ein Meisterschütze war auch der Grund dafür, dass Soller ein „Gefallener für Groß-Deutschland“ wurde. Oberstleutnant Stücker teilte Wally Soller schriftlich mit, dass ihr Gatte am 21. September 1944 im Freiheitskampf für Großdeutschland bei einem Feindbeschuss in den Waldkarpaten in Polen den Heldentod fand. Er merkte an: „Als Mensch und Kamerad wurde er wegen seiner Hilfsbereitschaft von mir und allen Kompanieangehörigen jederzeit geschätzt.“

    Sebastian Soller wurde in Polen von einer Kugel tödlich getroffen

    Freund und Kamerad Johann Stadler beschrieb die genaueren Umstände sehr emotional: „Als ich die Nachricht erhielt, dass unser guter Wastl nicht mehr ist, musste ich weinen wie ein Kind. Er wurde bei einem Angriff am Fuß verletzt und als er sich etwas erheben wollte, um zurückzukommen, da traf ihn die tödliche Kugel in das Herz und er sank um und war sofort tot.“ Er wurde 41 Jahre alt.

    In einem Einzelgrab in der Ortschaft Medwidzia wurde er zur letzten Ruhe gelegt. Seine Hoffnung, die er im Mai 1944 ausdrückte, ging leider nicht in Erfüllung: „Meine Gedanken und Gefühle sind in eurer Nähe und ich bin mitten unter euch... Aber auch für uns wird die Zeit kommen. Dann feiern wir immerwährende Maienzeit.“

    Einige Briefe von Frau und Kindern, versehen mit selbstgemalten Bildern und gepressten Blumen, kamen ungelesen mit dem Vermerk „gefallen“ zurück.

    Auf dem Sinninger Friedhof am Kriegerdenkmal, entworfen vom damaligen Lehrer Matthias Schieber, ist sein Name in Stein gemeißelt.

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