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Neuburg: Leben auf drei Quadratmetern: 82-jährige Neuburgerin wohnt seit Jahren im Auto

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Leben auf drei Quadratmetern: 82-jährige Neuburgerin wohnt seit Jahren im Auto

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    Ein Auto als Zuhause: In diesem Einser-Golf aus dem Jahr 1983 wohnt eine 82-Jährige schon seit fast fünf Jahren. Der Wagen steht auf einem Supermarkt-Parkplatz in Neuburg. Die Frau möchte nicht von vorne gezeigt werden.
    Ein Auto als Zuhause: In diesem Einser-Golf aus dem Jahr 1983 wohnt eine 82-Jährige schon seit fast fünf Jahren. Der Wagen steht auf einem Supermarkt-Parkplatz in Neuburg. Die Frau möchte nicht von vorne gezeigt werden. Foto: Andreas Zidar

    Angenommen, man würde diese „Wohnung“ inserieren, könnte man Folgendes schreiben: Drei Quadratmeter, drei Türen, 75 PS, 130.000 Kilometer auf dem Tacho, und, das Entscheidende: Kaltmiete 0 Euro. Sarah Engel, so möchte die Frau genannt werden, macht die Beifahrertüre auf und zeigt auf den Sitz mit nach hinten geklappter Lehne. „Hier ist mein Schlafzimmer.“ Mit dem Finger deutet sie über den Schaltknüppel, auf den Bereich zwischen Lenkrad und Fahrersitz. „Und hier mein Wohnzimmer.“ Man kann es sich kaum vorstellen, aber die 82-Jährige aus Neuburg wohnt tatsächlich in einem Auto – und das seit mittlerweile fast fünf Jahren. Die Rentnerin kann und will nicht viel Geld für eine teure Mietwohnung auszugeben. Also hat sie sich mit ihrem Einser-Golf aus dem Jahr 1983 auf einem Supermarkt-Parkplatz in Neuburg niedergelassen.

    Engel, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat schon vor Jahren bundesweit Schlagzeilen produziert. „Sie wohnt seit fünf Monaten im Auto“, hieß es damals etwa. Jahre später sind die Reporter lange weg, die 82-Jährige jedoch steht immer noch in ihrer Parknische. Sie selbst sieht sich nicht als Sozialfall, sondern als Pionierin, und ihre Wohnform als eine Art Protest gegen die explodierenden Wohnkosten, schildert sie aus ihrer eigenen Sicht. Doch wie konnte es so weit kommen?

    Die Frau stammt ursprünglich aus dem Saarland. Vor fünf Jahren zieht sie in den Raum Neuburg, da einer ihrer beiden Söhne dort wohnt. Einige Monate kommt sie bei ihm und seiner Familie unter, dann will sie etwas Eigenes. Die Rentnerin sucht nach vier Wänden für sich selbst, und findet nichts, was bezahlbar ist und ihr zusagt, wie sie erzählt. Ein WG-Zimmer etwa mit befristetem Mietvertrag hätte sie haben können. „Das wollte ich nicht unterschreiben.“ Engels Weg führt in die Neuburger Obdachlosenunterkunft am Donauwörther Berg. Wieder hat sie nur einige Monate ein richtiges Dach über dem Kopf. Sie zeigt Bilder ihres verdreckten Zimmers von damals. „Menschenunwürdige Zustände“ habe sie dort vorgefunden. Engel verlässt die Unterkunft – und steht plötzlich vor dem Nichts. Wobei, eines hat sie noch: ihren alten, roten Golf. Mit dem stellt sie sich erst auf einen öffentlichen Stellplatz. Weil sie sich dort nach einigen Monaten nicht mehr sicher fühlt, wechselt sie auf den Supermarkt-Parkplatz. Dort, in ihrer geschützten Parknische, steht und lebt sie bis heute. Es sei ein geduldeter Stellplatz, wie sie betont.

    Frau aus Neuburg wohnt seit fast fünf Jahren in ihrem Auto

    Wie kann man sich ein Leben im Auto vorstellen? Die Nacht verbringt die 82-Jährige auf dem Beifahrersitz, die Lehne bis zum Anschlag nach hinten. „Bequem ist das nicht, und gut schlafen kann man so auch nicht“, erzählt Engel. Im Winter kriecht die Kälte durch die Spalte der klapprigen Türen. Ein Thermometer an der Windschutzscheibe zeigt an, wie frostig es ist. Aktuell muss sie im dicken Pullover schlafen, eingepackt in sechs Wolldecken. „Das ist keine Wärme wie in einem normalen Bett.“ Morgens putzt sich Engel die Zähne mit Mineralwasser. Als Toilette benutzt sie eine öffentliche Einrichtung in der Nähe. Sich duschen und ihre Kleidung waschen kann sie einmal wöchentlich bei einer hilfsbereiten Bekannten, die in der Nachbarschaft wohnt. Dort ist Engel auch offiziell mit Postanschrift gemeldet. Ihr ist die Seniorin sehr dankbar – ebenso der Supermarktkette und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort. „Sie lassen mich hier stehen und haben Verständnis für meine Situation. Dafür bedanke ich mich von Herzen.“

    Leben im eigenen Auto: Die 82-Jährige aus Neuburg hat die Fenster ihrer "Wohnung" verklebt, als Sonnen- und vor allem Blickschutz, wie sie sagt.
    Leben im eigenen Auto: Die 82-Jährige aus Neuburg hat die Fenster ihrer "Wohnung" verklebt, als Sonnen- und vor allem Blickschutz, wie sie sagt. Foto: Andreas Zidar

    Tagsüber geht die 82-Jährige gerne durch Geschäfte bummeln. Da sie mitten im Industriegebiet steht, hat sie einige Läden zur Auswahl. Manchmal fährt sie auch in die Stadt – alleine schon, um einmal in der Woche ihr rollendes Zuhause zu bewegen. „Ich hoffe, das Auto geht mir noch lange nicht kaputt“, sagt Engel. Bevor sie losfahren kann, muss sie erst eine Stunde lang ihr Hab und Gut verräumen und etwa den Sichtschutz an den Fenstern entfernen. Ihre Sachen lagert sie auf der Rücksitzbank und in Einkaufswagen rund um ihr Auto. Essen holt sie sich in den umliegenden Geschäften. Ansonsten geht sie gerne über Felder und Wiesen spazieren. Oder sie setzt sich in ihr „Wohnzimmer“, auf den Fahrersitz also, und liest Bücher und Zeitung.

    Schaut sie auch in den Immobilienteil, um nach einer Wohnung für sich zu suchen? Das habe sie mittlerweile aufgegeben, sagt Engel. Grundsätzlich habe sie keine Geldsorgen. Früher hat sie unter anderem als Krankenschwester und Hebamme gearbeitet, die Rente reiche im Alltag, nicht jedoch für eine anständige Bleibe. Für eine Wohnung habe sie maximal 350 Euro kalkuliert. „Davon bekommt man heutzutage doch nichts“, klagt Engel. In ihren Augen müsse man mehr Sozialwohnungen bauen.

    Neuburg: 82-jährige Rentnerin wohnt in ihrem Auto auf einem Supermarkt-Parkplatz

    Das Schicksal der Frau sei der Stadt Neuburg vor Jahren bekannt gewesen, sagt Sprecher Bernhard Mahler. Dass die 82-Jährige aber immer noch in ihrem Auto wohnt, habe man nicht gewusst. „Ich bin schockiert“, betont Mahler. Nach seinen Angaben habe man der Frau schon vor Jahren Wohnungen angeboten, die die Frau jedoch abgelehnt habe – in einem Fall offenbar, weil nur eine Dusche, und keine Badewanne vorhanden war, so Mahler. „Wir haben uns um die Frau bemüht.“ Grundsätzlich stehe ihr ein Platz in der Obdachlosenunterkunft zu, sofern sie ihre Notlage darlegen kann – diese Voraussetzung dürfte mehr als erfüllt sein. Auch nach der ersten Berichterstattung unserer Redaktion haben sich mehrere Menschen gemeldet, die der Seniorin eine Wohnung angeboten haben.

    Mit jedem Satz, den man mit Engel wechselt, wird klar: Diese Frau hat ihren Stolz. Doch so langsam bekommt die Seniorin ihr Alter, und wohl auch ihre Wohnform, zu spüren. Sie sei in Neuburg, seitdem sie in ihrem Auto wohnt, nicht mehr bei einem Arzt gewesen. Mittlerweile beginnen ihre Beine und ihre Zähne zu schmerzen. „Die Gesundheit sagt mir: Überreize es nicht.“ Engel ist sich bewusst: „Es wird Zeit, dass etwas passiert.“ Sie suche nun einen Rechtsanwalt, der sie in ihrer Lage und bei der Suche nach einer geeigneten Wohnung unterstützen kann – ehrenamtlich, wie sie betont. „Es soll um die Sache gehen, nicht um Geld.“

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