Tolle, verrückte Kostüme und Perücken im barocken Retro-Style (Anne Buffetrille und Mirjam Ruschka), zweckdienliche Musik und satter Sound (Kostja Rapoport), Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich, nimmermüde tanzend, mit Witz und gutem Willen am geknittelten Text abarbeiten und dabei jede noch so schräge Regie-Idee umsetzen. Was will man mehr? Allein: „Der ‚Menschenfeind‘ ist kein Kostümfilm“. Sagt der Übersetzer des Molière-Stückes, Hans Magnus Enzensberger, im Programmheft der Ingolstädter Inszenierung des Jahres 1994, vor dreißig Jahren! Als übrigens kaum ein Programmheft unter 60 eng beschriebene Seiten hatte, und bei genauer Lektüre mühelos einen Bachelorabschluss möglich machte. Regisseur Tilo Nest hat für die aktuelle Inszenierung ebenfalls die Enzensberger-Fassung gewählt und er hat keinerlei Problem damit, Historisches und Heutiges munter zu vermischen. Der „Menschenfeind“ ist aber nun mal keine Action-Komödie, sondern, ganz im Gegenteil, ein Konversationsstück, wenn nicht gar ein Kammerspiel.
Alceste (Enrico Spohn, in routinierter Aufgesetztheit) ist ein verliebter Melancholiker, wie der erweiterte Titel des Stückes verrät, aber er ist zugleich ein unerträglicher Moralist und Misanthrop. Zu seinem Leidwesen ist er offenbar rettungslos verliebt in Celimene (Edda Wiersch), die der Mittelpunkt einer Gesellschaft ist, die er wegen ihrer Heuchelei und Amoral verachtet und eigentlich am liebsten fliehen würde.
Barockes Feuerwerk in Ingolstadt: Molière-Stück gleicht einem Kostümfilm
Auf einer goldgelben Bretterbühne (Robert Schweer), um die herum sich die gesellschaftlichen Höhe- und Tiefpunkte einer vergnügungssüchtigen, sittenlosen Gesellschaft abspielen, werden die großen Dialoge in unterschiedlichen Konstellationen geführt. Hier lernen wir vordergründig kennen: Philinte (Sebastian Kremkow), Alcestes besten Freund, Eliante (Berna Celebi), den vorgeführten „Dichter“ Oronte (Peter Rahmani) und das Verehrer-Duo Acaste (Ralf Lichtenberg) und Clitandre (Peter Polgar). Das sehr körperliche Duell der Kontrahentinnen Celimene und Arsinoe (Chen Emilie Yan) als Playback-Show ist ein Glanzstück des wortreichen Abends.
Alcestes Liebeslamento und seine unerträglich rigide Moralität sind redundant und nerven irgendwann nur noch. Kurz nach der Pause fällt auf der Bühne der Satz „Es ist halb zehn und wir kommen nicht vom Fleck“. Das entspricht den Tatsachen, es ist halb zehn und das Stück erweist sich schon hier als zu lang. Und es dauert noch, bis Celimene in einer Art Tribunal die Rechnung präsentiert bekommt für ihr leichtfertiges Leben und Alceste verschwindet. Ist der „Menschenfeind“ jetzt ein Stück seiner Zeit oder zeitlos? Letztlich sind sich Enzensberger, die Ingolstädter Inszenierung von 1994 und die an diesem Premieren-Abend umjubelte von Tilo Nest in einem einig: Moralisch ist die Menschheit seit Moliere kein Stück weitergekommen.
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