Ein wenig Grusel, ein wenig Sherlock Holmes und fröhliches Mitraten, wer denn nun der Täter ist – darauf dürften sich die Zuschauerinnen und Zuschauer des Stücks „Die Goldfliegen Doktrin“ vergangene Woche im Studienseminar eingestellt haben. Doch schon die zweite Szene macht klar, dass hier um mehr geht. In nobler, verstaubter Gesellschaft lauschen die Protagonisten den frauenfeindlichen Ausführungen des Grafen von Wallenbach (Thomas Malek), eifrig unterstützt von seiner Frau (Martina Kornreiter), einer Art viktorianischem Pick-Me-Girl, sozusagen. Der Ermittler Maximilian Falkenstein protestiert energisch, der Abend endet im Eklat, und die Sympathien sind verteilt. So leicht macht es die Autorin Lucie Schafferhans dem Publikum glücklicherweise dann aber doch nicht. Im Gegenteil, das Stück geht dahin, wo es wehtut.
Die grausamen Verbrechen entfalten auch ohne Gewaltdarstellung ihre Wirkung
Dieser Weg beginnt bei der schonungslosen Beschreibung der Verbrechen im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die den Plot des Stücks der Free Actors Guild vorantreiben und auch ohne exzessive Gewaltdarstellung ihre Wirkung beim Publikum entfalten. Den Opfern wurden vom Täter chirurgisch präzise die Genitalien entfernt und in den Wunden finden sich einzelne Maden der Goldfliege, die zu jener Zeit zur Wundreinigung eingesetzt wurden.
Die Ermittler Falkenstein (René Schmager) und Tannhauser (Tom Sandmair) nehmen sich dem Fall an, unterstützt von der Biologin Elisabeth Graeve (Melanie Gaber) und der jungen Medizinstudentin Frida Johannsson (Kerstin Egerer). Schnell fällt der Verdacht auf Johannssons Lehrer Dr. Rupert Radowitz (Philipp Thomas), ein sexistisches, übergriffiges Scheusal, und zudem ehemaliger Mentor und Geliebter des verurteilten Mörders Kurt Friedrich (Susanne Ilchmann). Kurt ist jedoch eigentlich eine Frau, die von ihrem Vater gewaltsam auf Mann getrimmt und chirurgisch ein funktionsloser Penis verpasst worden war. Und sie hat eine Schwester namens Frida, die ihr diesen wieder abnehmen möchte und dafür Übung braucht.
Ensemble der Free Actors Guild lässt das Publikum erschaudern – und mitfühlen
Kerstin Egerer und Susanne Ilchmann brillieren als misshandelte und zum Äußersten getriebene Schwestern, deren grausame Selbstermächtigung die ebenso grausame Unterdrückung spiegeln, die sie in ihren Leben erfuhren. Schafferhans hätte es sich leicht machen und dem Publikum die schwer verdauliche Melange aus Mitgefühl und Abscheu ersparen können. Das tat sie aber nicht, und so ist „Die Goldfliegen Doktrin“ nicht nur unterhaltsamer Theater-Krimi, sondern schaurige Konfrontation mit einer Ungerechtigkeit, die heutzutage meist nicht mehr so grobschlächtig und absolut wie damals daherkommt, in ihrem Kern aber dieselbe geblieben ist.
An der ein oder anderen Stelle ist diese Botschaft zwar so direkt, dass sie zwischendurch an Wucht zu verlieren droht. Wenn jedoch die Wahrheit über die grausamen Morde ans Licht kommt, und Egerer und Ilchmann ihre großen, unter die Haut gehenden Auftritte haben, ist sich ihr nicht mehr zu entziehen. Sie bleibt auch dann im Kopf, wenn der Vorhang längst gefallen ist, und ist die größte Errungenschaft, die Schafferhans und den Schauspielerinnen und Schauspielern der Free Actors Guild mit diesem Stück gelungen ist.
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