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Neuburg: Meistens weine ich heimlich: Eine Mutter erzählt von ihrer postpartalen Depression

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Meistens weine ich heimlich: Eine Mutter erzählt von ihrer postpartalen Depression

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    Rund jede siebte Mutter entwickelt eine postpartale Depression. Häufig fühlen sich die Frauen mit der Krankheit alleingelassen. Eine Neuburgerin erzählt von ihren Erfahrungen.
    Rund jede siebte Mutter entwickelt eine postpartale Depression. Häufig fühlen sich die Frauen mit der Krankheit alleingelassen. Eine Neuburgerin erzählt von ihren Erfahrungen. Foto: Mascha Brichta, dpa (Symbolbild)

    Oh mein Gott, sie ist da! Endlich! Die Schmerzen lassen urplötzlich nach. Aber wo bleibt die Freude? Dieses Gefühl der grenzenlosen Glückseligkeit wie man es in den Filmen immer sieht. Bei mir ist da nichts.

    Postpartale Depressionen: So schildert eine Betroffene die Erkrankung

    Ich höre in mich hinein und spüre Leere, Erschöpfung. Vielleicht ein bisschen Erleichterung. Da schießt mir ein Gedanke durch den Kopf, der meine Gefühlswelt überrollt: Ich weine nicht vor Glück, also bin ich eine schlechte Mutter. Es ist nicht so, wie es sein soll, wie es die heile Familienwelt einem vorgaukelt. Ich habe versagt! In diesem Moment bin ich mir sicher: Ich werde meinem Kind keine gute Mutter sein können.

    Nicht jede Mutter, die ein Kind zur Welt gebracht hat, kann sich darüber uneingeschränkt freuen. Rund zehn bis 15 Prozent der Mütter entwickeln eine sogenannte postpartale Depression. Das betrifft rund jede siebte Mutter, rechnet Sabine Surholt vor. Sie ist die Vorsitzende des Vereins "Schatten und Licht", der einzigen Selbsthilfeorganisation in Deutschland, die sich mit diesem Thema befasst.

    Dieses verdammte Stillen. Es klappt einfach nicht. Meine Brust tut höllisch weh, vor jedem Anlegen muss ich mich minutenlang dazu überwinden. Die Kleine brüllt, sie hat Hunger. Kein Wunder, denn sie bekommt kaum Milch aus meiner Brust. Aber ich muss weiter machen. Alle guten Mütter stillen.

    Dass mit der Geburt eines Kindes eine emotionale Phase mit so manchem Tief einhergeht, ist normal. Man spricht vom "Babyblues". Nur sollte dieser nach zehn bis 14 Tagen vorbei sein, erklärt Surholt, dann nämlich ist die hormonelle Umstellung des Körpers abgeschlossen. Bleiben die depressiven Phasen und kommen Schuld- und Versagensängste dazu, sind die Frauen in eine postpartale Depression gerutscht.

    Das Bild der "liebenden Mutter" übt großen Druck auf Frauen aus

    Ich weine viel, kenne mich selbst nicht mehr. Meistens weine ich heimlich. Ich will nicht, dass mich mein Mann so sieht. Die Hebamme hat sich nach dem Weinen erkundigt und mir Globuli gegeben. Seitdem habe ich das Gefühl, dass es mir ein bisschen besser geht.

    Lange Zeit versuchen die Frauen, dem allgemein vorherrschenden Bild einer fürsorglichen, liebenden Mutter zu entsprechen, so wie es uns Fernsehen und Werbung vorgaukeln, erklärt Surholt. Das Schamgefühl sei immens, manche Frauen würden noch nicht einmal mit ihren Ehemännern darüber sprechen. Bis die Krankheit diagnostiziert wird, vergehen oft Monate. Wertvolle Zeit, in der sich die Depression dann meist schon festgesetzt hat.

    Ich halte das nicht mehr aus. Die Kleine will den ganzen Tag rumgetragen werden, sonst schreit sie. Diese ständige körperliche Nähe ist mir unangenehm, irgendwie befremdlich. Mein Herz rast, ich bin ständig unruhig.

    Babys spüren, dass mit der Mutter etwas nicht stimmt

    Die Babys – sind sie auch noch so klein – spüren, dass etwas nicht stimmt, und reagieren auf die einzige Art, in der sie sich auszudrücken können: sie schreien. Durch die Krankheit der Mutter können beim Säugling Bindungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie Störungen der emotionalen und kognitiven Entwicklung die Folge sein.

    Ich will schlafen, einfach nur schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt richtig tief geschlafen habe. Ein paar Wochen ging es gut, die Kleine schlummerte selig in ihrem Bettchen, aber jetzt hat sie alle 15 Minuten Hunger – vor allem nachts. Ich mache kein Auge mehr zu. Wann hört das auf? Wann hört das alles endlich auf?

    "Die Frauen gehen durch die Hölle, jeden einzelnen Tag." Surholt weiß, wovon sie spricht. Die Frau aus Welden, ein Ort westlich von Augsburg, hatte nach ihrem ersten Kind selbst eine postpartale Depression entwickelt. Die Psyche ist bei dieser Krankheit oft schon vor der Geburt eines Kindes am Rande der Belastbarkeit angekommen, sei es durch eine vorausgegangene Fehlgeburt, langes Warten auf ein Wunschkind, Ängste wegen vorzeitiger Wehen oder eine traumatische Geburt. Auch andere Belastungen wie Probleme mit dem Partner oder in der Familie, ein Umzug oder finanzielle Sorgen können die Seele belasten.

    Postpartale Depressionen sind nicht im Bewusstsein angekommen

    Meine Schwiegereltern kommen hin und wieder zu Besuch. Anfangs habe ich ihnen noch erzählt, dass ich kaum noch schlafe, aber Kommentare wie "Ja mei, das ist halt so, wenn man ein kleines Kind hat" oder "Stell dich nicht so an, da musst du halt jetzt durch" halte ich nicht mehr aus.

    In Deutschland ist die postpartale Depression noch nicht wirklich im Bewusstsein der Menschen angekommen, berichtet Surholt. Oft wissen noch nicht einmal Gynäkologen oder Psychiater, wie sie die Krankheit erkennen können. Die Frauen werden weder vor der Geburt, zum Beispiel in Geburtsvorbereitungskursen, noch danach für das Thema sensibilisiert. In vielen Ländern ist das anders: "In Irland beispielsweise ist die postpartale Depression eine alltägliche Sache, über die viel gesprochen wird, auch in der Öffentlichkeit. Dort wird die Krankheit nicht so tabuisiert wie bei uns."

    Es gibt Momente, da will ich einfach nur weglaufen. Dann schaue ich aus dem Fenster und denke mir: Komm, da hüpfst du jetzt runter. Wir wohnen in Nürnberg im 8. Stock. Mir ist klar, dass ich das nicht überleben werde. Aber um das geht es mir gar nicht. Ich will hier einfach nur weg.

    Ohne Hilfe, oder wenn die gesuchte Hilfe nicht bekommen wird, kann es sein, dass sich Suizidgedanken entwickeln. In einigen Fällen tun es die Frauen wirklich, und manchmal nehmen sie ihre Kinder mit.

    Experten empfehlen eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie

    Mein Gott, was ist mit mir los? Ich habe solche Angst, dass ich anfange zu spinnen.

    "Wir empfehlen den Frauen, immer zweigleisig zu fahren", sagt die Expertin. Antidepressiva oder Neuroleptika kombiniert mit einer Psychotherapie. Denn nur so werde zunächst das vegetative Nervensystem zur Ruhe gebracht und dann aufgearbeitet, wo die Überlastung herkommt.

    Mein Mann akzeptiert die Situation, wie sie ist. Mit der Kleinen hat er nicht viel zu tun. Kurz nach der Geburt ist er mit dem Studium fertig geworden. Jetzt arbeitet er von früh bis spät. Aber Hilfe brauche ich ohnehin keine, denn nur eine Mutter weiß, was ihr Kind braucht. Ohne mich läuft der Laden nicht, ich muss funktionieren.

    Studien haben gezeigt, dass auffällig viele Frauen aus sozialen, pflegenden und helfenden Berufen von einer postpartalen Depression betroffen sind. Surholt: "Menschen mit Helfersyndrom und solche, die sehr perfektionistisch veranlagt sind, scheinen anfälliger zu sein. Viele erleben gerade mit dem ersten Kind einen Kontrollverlust über ihr Leben. Die Ursache für diesen extremen Perfektionismus oder das Helfersyndrom gilt es in der Psychotherapie aufzuarbeiten."

    Der Verein "Schatten und Licht" ist die einzige Selbsthilfegruppe für Betroffene

    Ich habe gegoogelt, denn so will ich nicht weiterleben. Die Kleine ist jetzt neun Monate alt. Das Leben hat keinen Sinn. Ich lese etwas über Heultage, Wochenbettdepression. Aber laut Beschreibung habe ich wohl eher eine postpartale Depression. Im Internet stoße ich auf den Verein "Schatten und Licht".

    "Unsere Selbsthilfeorganisation gibt es seit 1996", erzählt Surholt. Sie wurde von betroffenen Müttern gegründet, inzwischen hat der Verein aber auch Fachleute mit an Bord. Das niederschwelligste Angebot ist die Gesprächsmöglichkeit unter Gleichgesinnten. Telefonisch können sich aktuell Erkrankte mit Genesenen austauschen. "Es hilft schon viel, zu wissen, dass man nicht die einzige ist mit diesem Problem", sagt Surholt.

    Eine Kontaktliste gibt es auch für Angehörige, damit zum Beispiel Väter einen Ansprechpartner zum Austausch finden. Außerdem gibt es eine Liste von bundesweit rund 70 Beraterinnen, die speziell geschult sind und kostenfrei beraten, um zum Beispiel die Zeit zu überbrücken, bis ein Therapieplatz frei wird. Und dann gibt es auf der Homepage des Vereins auch noch eine Liste mit Fachleuten wie Psychologen und Psychotherapeuten, die sich speziell mit dem Thema postpartale Depression auskennen – nach Postleitzahl sortiert.

    Seit vier Wochen bin ich mit der Kleinen in einer Münchner Tagesklinik. Wir gehen jeden Morgen hin, haben dort Gruppen- oder Einzeltherapie, Babymassage, Musiktherapie und Mutter-Kind-Interaktionen. Manchmal machen wir gemeinsam Ausflüge. Das kenne ich gar nicht mehr, so lange habe ich schon keinen mehr unternommen. Ich hatte mich daheim eingeigelt und kaum noch das Haus verlassen. Die Nebenwirkungen der Antidepressiva sind enorm. Anfangs hatte ich sogar Panikattacken bekommen. Das Gefühl der Leere verstärkte sich, ich fühlte mich komplett gelähmt. Aber nach rund zwei Wochen wurde es besser. Die anderen Mütter sind fast schon zu meiner Familie geworden.

    Die Plätze in Mutter-Kind-Stationen sind besonders rar

    In Deutschland gibt es leider viel zu wenige Mutter-Kind-Stationen, bemängelt die Vereinsvorsitzende. Bundesweit gibt es nur zehn Stationen, in denen Mutter und Kind gemeinsam betreut werden. Die Plätze sind rar. In Akutfällen müssen die Frauen ohne ihr Baby in die Psychiatrie, was natürlich für beide nicht gut ist. Oder sie kommen mit Kind in eine normale Psychiatrie, was aber ein erneutes Trauma auslösen kann, weil die Frauen wieder komplett eigenverantwortlich sind für ihr Kind - therapiert wird nur die Mutter.

    Ich habe mir oft die Frage gestellt, warum es mich erwischt hat. In der Therapie wurde mir einiges klar. Die Kleine war ein Wunschkind, aber zeitlich nicht geplant. Mein Mann hat noch studiert und wir sind gerade erst nach Nürnberg gezogen, als ich schwanger wurde. Beim ersten Arztbesuch sagte mir der Doktor, es sei eine Eileiterschwangerschaft, die abgebrochen werden müsse, was sich dann aber nicht bewahrheitete.

    Depressionen nach der Geburt: Meist liegen die Probleme tiefer

    Doch der Schock saß tief. Blutungen blieben die ganze Schwangerschaft über, ich lebte ständig in Angst, mein Baby zu verlieren. In meinem neuen Job musste ich gleich in der ersten Woche sagen, dass ich schwanger bin. Das war mir sehr peinlich. Von da an saß ich zu Hause, alleine, in einer fremden Stadt, in einem anonymen Häuserblock, Familie und Freunde weit weg. Das war die Hölle! Ich lag den ganzen Tag vor dem Fernseher, saugte alle negativen Nachrichten auf und fragte mich ständig, in welch grausame Welt mein Kind hineingeboren wird.

    Meist liegen die Probleme tiefer, weiß Sabine Surholt, manchmal sogar in der eigenen Kindheit. Aber die postpartale Depression sei gut behandelbar. "Es dauert seine Zeit, im Durchschnitt rund sechs Monate, aber die meisten Frauen werden wieder gesund."

    Heute geht es mir gut. Mein Lachen kommt wieder von Herzen. Wir haben noch ein zweites Kind bekommen, wieder ein Mädchen. Von einer postpartalen Depression ist keine Spur. Ich war diesmal aber auch besser vorbereitet: Meine Schilddrüsenunterfunktion wurde hormonell eingestellt, ich bekam Infusionen und Cremes gegen meinen Eisen-, Vitamin D- und Progesteronmangel. Wir sind raus aus der Großstadt und nach Neuburg gezogen, dorthin, wo mein Mann aufgewachsen ist, wo unsere gemeinsamen Freunde leben. Und ich versuche meinen Perfektionismus abzulegen. Heute weiß ich, dass auch eine Mutter nicht immer perfekt sein muss.

    Der Artikel basiert auf mehreren Interviews von Gloria Geissler.

    Der Verein "Schatten & Licht":

    Der Selbsthilfeverein "Schatten & Licht" ist der einzige in Deutschland, der sich mit postpartaler Depression befasst. Er möchte betroffenen Frauen und deren Familien eine Hilfe an die Hand geben, um die schwere Zeit, die sie erleben, leichter zu bewältigen.

    Der Verein führt eine Kontaktliste für betroffene Frauen, bietet ein bundesweites Beratungs- und Selbsthilfegruppen-Netz an, erstellt Fachleute-Listen (PsychiaterInnen, GynäkologInnen, Diplom-PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, Hebammen, GeburtshelferInnen, StillberaterInnen, HeilpraktikerInnen, Sozial-PädagogInnen) und setzt sich für die Einrichtung spezieller Mutter-Kind-Stationen ein, um den belastenden Mythos der allzeit glücklichen und perfekten Mutter zu entlarven.

    Sabine Surholt (Vorsitzende) ist erreichbar unter 08293/965864, die Homepage des Vereins findet man unter www.schatten-und-licht.de.

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