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Neuburg-Schrobenhausen: Familienberatung in Neuburg: „Die Mediensucht ist ein Riesenproblem“

Neuburg-Schrobenhausen

Familienberatung in Neuburg: „Die Mediensucht ist ein Riesenproblem“

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    Gabriele Plach-Bittl fürchtet, dass viele Kinder ihre Zeit rund um die Uhr vor mobilen Geräten verbringen.
    Gabriele Plach-Bittl fürchtet, dass viele Kinder ihre Zeit rund um die Uhr vor mobilen Geräten verbringen. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa (Symbolbild)

    Stellen Sie in Ihrer täglichen Arbeit einen Unterschied zwischen dem ersten Lockdown im März 2020 und dem aktuellen Lockdown fest?

    Gabriele Plach-Bittl: Im ersten Lockdown mussten wir aktiv auf unsere Klienten zugehen. Alle waren stark überfordert und dadurch wie gelähmt. Auch jetzt haben wir jede Menge Arbeit und das wird noch mehr werden. Die Intensität der Belastung und die Sorgen der Menschen nehmen zu.

    Sabine Wölfel: Im ersten Lockdown hatten viele, vor allem auch die Kinder und Jugendlichen, die Hoffnung, dass der Spuk im Sommer vorbei sein würde. Es macht den Menschen Angst, dass kein Ende in Sicht ist. Die negativen Erfahrungen aus dem Frühjahr wiederholen sich und niemand weiß, wann es vorbei sein wird.

    Mit welchen konkreten Sorgen melden sich Kinder und Jugendliche bei Ihnen?

    Wölfel: Viele spüren einen enormen Druck, besonders wenn es um Prüfungsergebnisse oder den Abschluss geht. Die Kinder und Jugendlichen haben Sorgen, nicht die geforderte Leistung erbringen zu können.

    Unterscheiden sich die Sorgen der Kinder von denen der Eltern, die bei Ihnen Rat suchen?

    Wölfel: Die Eltern haben ähnliche Ängste. Was, wenn es meine Kinder nicht schaffen? Auch den Eltern setzt die Perspektivlosigkeit massiv zu.

    Gabriele Plach-Bittl
    Gabriele Plach-Bittl

    Plach-Bittl: Wir befinden uns seit fast einem Jahr in einer absoluten Ausnahmesituation. Es ist eine enorme Aufgabe, Homeoffice, Homeschooling, den Haushalt und die Kinderbetreuung unter einen Hut zu kriegen. Eltern sind nicht dafür ausgebildet und deshalb stehen viele am Rande zur absoluten Überforderung. Homeoffice und Homeschooling – das klappt nicht gemeinsam. Das ist eine Notlösung, allerdings eine schlechte.

    Was wäre Ihr Ansatz? Was müsste anders laufen?

    Plach-Bittl: Hinterher ist man immer schlauer. Es ist leicht, alles zu kritisieren. Aber eine Sache ist offenkundig. Es gibt seit Beginn der Pandemie keine schlüssigen und vor allem keine einheitlichen Konzepte. Ständig werden Maßnahmen wieder um zwei Wochen verlängert. Wir fahren auf Sicht. Da ist keine Verlässlichkeit, keine Sicherheit und keine Planbarkeit. Und dieses Gefühl der Perspektivlosigkeit ist das Schlimmste.

    Sabine Wölfel
    Sabine Wölfel

    Wölfel: Jeder versucht in dieser Situation das Beste. Und es ist nicht einer oder eine Gruppe verantwortlich für die Dinge, die nicht gut laufen. Die Eltern – und in sehr vielen Fällen sind es die Mütter – müssen neben Haushalt, Schule und Arbeit auch noch Ansprechpartner für die Kinder sein, sich darum bemühen, dass sie genug Bewegung haben, sich richtig ernähren. Das kostet enorm viel Kraft.

    Was sind die Konsequenzen?

    Wölfel: Ich höre von Eltern noch häufiger als sonst, dass sie an ihre Grenzen der Belastbarkeit kommen. Wenn die Nerven blank liegen, wird es auch mal laut und die Türen knallen. Das hebt die Stimmung nicht gerade. Auch an den Eltern geht das nicht spurlos vorbei. Viele klagen über körperliche Symptome wie Kopfschmerzen. Die Gefahr von psychischer Überlastung ist groß.

    Gibt es auch Bereiche, in denen es gut läuft? Lässt sich etwas Positives sagen?

    Wölfel: Ich finde es sehr wichtig, ein Augenmerk auf die Dinge zu legen, die gut funktionieren. Unsere Kinder leisten gerade enorm viel. Sie müssen sich selbst eine Struktur geben und lernen viel im familiären Umfeld und im sozialen Miteinander in der Familie. Die Familie ist aktuell wieder mehr gefragt. Eltern berichten, dass mehr wertvolle Zeit gemeinsam zur Verfügung steht. Es ist allerdings eine sehr große Aufgabe! Eheprobleme oder die Herausforderungen pubertierender Kinder und Jugendlicher sind ja seit Corona nicht plötzlich weg.

    Welche möglichen Langzeitfolgen hat die Pandemie? In welche Richtung gehen Ihre Sorgen?

    Plach-Bittl: Kinderärzte schlagen Alarm, dass der Anteil an Kindern mit Übergewicht zugenommen habe. Kinder kompensieren viel mit Essen. Ein Riesenproblem ist und wird die Mediensucht. Vormittags sollen die Kinder am PC sitzen und Schule machen und nachmittags sind sie in ihrer Freizeit online. Ich fürchte, viele sind rund um die Uhr vor mobilen Geräten. Hinzu kommen Themen wie Depressionen, psychische Belastung und die vorher schon angesprochene Perspektivlosigkeit. Auch die soziale Wahrnehmung der Kinder wird gestört sein. Für uns ist eine Umarmung normal. Kinder verbinden Nähe und Kontakt aktuell mit der Gefahr einer Ansteckung.

    Wölfel: Die sowieso schon vorhandene Schere in der Bildung wird größer werden. Es hängt immer mehr vom Geldbeutel der Eltern ab. Beim Homeschooling wird bereits von Grundschülern erwartet, entsprechende Geräte zur Verfügung zu haben. Es gibt durchaus Eltern, die ihre Kinder gerne unterstützen möchten, aber nicht über das notwendige Know-how verfügen. Das betrifft sowohl Eltern mit anderer Muttersprache als auch Eltern, deren Kinder zum Beispiel eine Fremdsprache lernen, die sie selbst nie gelernt haben.

    Die Schule fängt zumindest einige der Bereiche ab, die Sie genannt haben und ist außerdem ein Ort, an dem Kinder außerhalb des Elternhauses gesehen werden. Wie stehen Sie zur Diskussion der Schulöffnungen?

    Wölfel: Alle Schüler zurück in die Klassen zu schicken, wäre aktuell vorschnell. Auch die Kinder haben Angst, jemanden anzustecken. Ich finde das Modell des Wechselunterrichts gut. Die Angst ist nicht so da, weil die Abstände eingehalten werden, und sie haben trotzdem den Kontakt zu Freunden.

    Plach-Bittl: In der Grundschule ist die Situation etwas anders. Dort lernen die Kinder soziales Miteinander und erwerben überhaupt erst die Kompetenz, zu lernen. Die Grundschüler müssen schnell wieder an die Schulen. In den Schulen im Landkreis sind meiner Meinung nach Räume vorhanden. Warum sitzt der eine Teil der Klasse nicht im Klassenzimmer und der andere im Handarbeitsraum? Ich würde mir da mehr Kreativität im Umgang mit der Krise wünschen. Bildung braucht Zeit und das lässt sich nicht aufholen.

    Was fordern Sie von den Verantwortlichen?

    Plach-Bittl: Ich würde mir wünschen, dass Eltern und Kinder mehr gehört werden. Die werden gerade übersehen. Wo ist die Bundesbildungsministerin? Wo ist die Familienministerin? Ich möchte mehr Eltern, Lehrerinnen und Psychologen in Talkshows sehen anstelle der hundertsten Diskussion zu Wirtschaftshilfen.

    Können Sie Familien an dieser Stelle noch etwas mit auf den Weg geben?

    Plach-Bittl: Wir sind da! Die Eltern sind mit ihren Sorgen nicht alleine und können sich bei uns Hilfe holen. Wir bieten auch Videoberatungen oder Telefonate an.

    Wölfel: Mir wäre es wichtig mitzugeben, dass es Auszeiten für Eltern und Kinder braucht. Gerade mit Schulkindern ist der ganze Tag und häufig auch das Wochenende von der Schule bestimmt. Das Kinderzimmer wird zum Klassenzimmer. Es braucht aber Rückzugsmöglichkeiten, Freizeit und ein Wochenende. Das Wichtigste ist rausgehen und Bewegung. Und Kinder sollten weiterhin ihre Freunde sehen dürfen.

    Gabriele Plach-Bittl und Sabine Wölfel sind Sozialpädagoginnen bei der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche, Eltern und Familien am Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen Schmidstr. C 140, 86633 Neuburg an der Donau. Die Beratung ist kostenfrei und auch anonym möglich. Gerne per Video, telefonisch oder per Email.

    Telefon 0 84 31 / 10 20 Fax 0 84 31 / 43 04 51 mobil 0171 / 3 37 62 01 Email: familienberatung@neuburg-schrobenhausen.de

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