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Neuburg: Prozess am Amtsgericht Neuburg: „Ein Bruder hätte niemals zugestochen“

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Prozess am Amtsgericht Neuburg: „Ein Bruder hätte niemals zugestochen“

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    „Auf dem Weg zu bleiben, ist nicht einfach“, sagt der Angeklagte vor dem Amtsgericht in Neuburg.
    „Auf dem Weg zu bleiben, ist nicht einfach“, sagt der Angeklagte vor dem Amtsgericht in Neuburg. Foto: Elisa-Madeleine Glöckner

    Ihm das Messer in die Brust zu rammen, das habe er ohne Absicht getan. Er habe nur versucht, dem Schlagring auszuweichen und sich vor seiner Faust zu ducken. Die Klinge war 26 Zentimeter lang und beidseitig geschliffen. Heute liegt sie irgendwo auf dem Grund der Donau.

    Amtsgericht Neuburg: Im Raum steht versuchte Tötung

    Der junge Mann, 26, sitzt vor Gericht in Neuburg. Im Raum des Prozesses steht versuchte Tötung. Ein Delikt, wie es normalerweise in den Kontext des Schwurgerichts gehört, sagt Richter Christian Veh. Und es ist nicht das einzige Vergehen, das ihm Staatsanwältin Alexandra Engel vorwirft – doch das schlimmste. Der Mann auf der Anklagebank räumt alles ein. „Es stimmt“, erzählt er den Schöffen, er habe es getan, so wie alle anderen Punkte auch.

    Es war an einem Abend im Dezember 2019, als es passierte. Er traf den Mann, das spätere Opfer, zufällig im Neuburger Kräutergarten. Die beiden hatten Streit, zumindest sei nicht alles gut zwischen ihnen gewesen. Das lag vor allem daran, dass der Angeklagte dem anderen etwa eine Woche vor dem Vorfall einen Tresor geklaut hatte. Der Inhalt: hunderte Euro und wohl 50 Gramm Gras. „Er wusste, dass ich es hatte“, sagt der Angeklagte im Saal 42. Doch jedes Mal, als danach gefragt worden sei, habe er gelogen: Er habe das Zeug nicht. Er sei der Falsche. „Damals war ich Junkie, ich habe das Zeug auch selber geraucht.“

    Auf dem Nachhauseweg vom Kräutergarten sei man sich dann wieder begegnet, das war in der Nähe des Jugendzentrums, selbe Stadt. Das Opfer habe plötzlich seinen Schlagring herausgeholt. „Alter, wenn du mit einer Waffe kommst, komme ich auch mit einer“, erinnert sich der 26-Jährige. Er habe das regenbogenfarbene Messer gezogen. Und nur kurze Zeit später lag er da, der andere, auf dem Boden, ganz still, und habe nicht mehr reagiert.

    Uneinigkeit zwischen Angeklagtem und dem Zeugen bestand beim Thema "Schlagring".
    Uneinigkeit zwischen Angeklagtem und dem Zeugen bestand beim Thema "Schlagring". Foto: Victoria Bonn-Meuser, dpa (Symbolfoto)

    Die Klinge hinterließ eine etwa drei Zentimeter tiefe Wunde in der linken Brust und Verletzungen an der rechten Hand. Es hätte keine akute Gefahr bestanden, schreibt der rechtsmedizinische Gutachter in seinem Bericht. Allerdings, das schreibt er auch, hätte es zu „tödlichen Folgeerscheinungen“ kommen können. Die Lunge zum Beispiel hätte kollabieren können, das Herz gravierend verletzt, es hätte zu einem kardiogenen Schock kommen können oder der Mann innerlich verbluten. Trotz allem sei die Wunde gut verheilt, berichtet das Opfer, ein 25 Jahre alter Mann, arbeitssuchend. Noch immer aber könne er seinen rechten Finger nicht bewegen, die Sehne sei gerissen. Auch er rekapituliert diesen Abend im Dezember 2019. Wobei sich seine Schilderungen nicht ganz mit dem decken, was der Mann auf der Anklagebank zuvor geäußert hat.

    Nicht erst am Juze, schon eine dreiviertel Stunde früher sei man aneinandergeraten – in der Münchener Straße beim Modehaus Bullinger. Da sei der Angeklagte zu ihm gekommen und habe mit seinem Einhandmesser vor ihm hantiert. „Er hat immer wieder in meine Richtung gepikt.“ Und gesagt, dass er „das“ hier nicht machen könne, weil zu viele Leute zusähen. Später beim Landratsamt sind die beiden wieder aufeinandergetroffen. Es würde auf eine Schlägerei hinauslaufen, dachte sich der 25-Jährige. Und weil er wusste, dass der andere das Messer bei sich hatte, habe er seinen Schlagring aus der Tasche geholt und auf den Boden geworfen – demonstrativ: „Komm, wir regeln das wie Männer.“ Mit den Fäusten, ohne Waffen. Aber der Angeklagte ließ sich nicht ein. „Ein Bruder hätte niemals zugestochen.“

    Prozess in Neuburg offenbart Einblick in die Drogenszene

    Der Zeuge war zu diesem Zeitpunkt wohl intoxikiert, stand also unter Drogen. Ein Test nach dem Vorfall reagierte positiv auf Amphetamine und Cannabinoide. Und auch der Mann auf der Anklagebank gibt an, lange und regelmäßig konsumiert zu haben. Koks und Amphetamine, als er im Dezember 2018 einen der Polizeibeamten biss, die ihn mit „enormen Stimmungsschwankungen“, blutend und leicht hyperventilierend in die Notaufnahme des Klinikums nach Ingolstadt gebracht hatten. Koks, Cannabis und Alkohol, als er im Februar 2019 einen 24-Jährigen verdrosch, der weinend im Hofgarten lag, weil ihn seine Freundin verlassen hatte. Zwei weitere Männer hielten den betrunkenen Trauernden fest, während der Angeklagte seinen Gürtel aus dem Hosenbund zog und ihn damit mehrmals peitschte. Dann seinen Kopf gegen den des anderen kloppte, ihm den Schädel prellte und die Nase brach. Die schreiende Freundin, 29, daneben.

    Er sei auch drauf gewesen, als er im Oktober 2019 seinen Bruder und die Mutter bedrohte. Ihr Sohn habe Tiere an der Wand gesehen, erzählt die 46-Jährige, sei paranoid gewesen. Dann dachte er wahrscheinlich, man wolle ihm irgendetwas Böses antun. Er ging zur Schublade in der Küche, nahm ein Messer heraus und sagte: „Ich stech’ euch alle ab“, so jedenfalls führt es die Anklage aus.

    In etwa so kann ein Einhandmesser aussehen, mit dem der Angeklagte zugestochen hat.
    In etwa so kann ein Einhandmesser aussehen, mit dem der Angeklagte zugestochen hat. Foto: Victoria Bonn-Meuser, dpa (Symbolfoto)

    Und so offenbart der Prozess in eindrucksvollen Bildern Informationen darüber, wie die Drogenszene heute in Neuburg lebt und agiert. Der Angeklagte selbst ist ein Beispiel dafür: Elf Eintragungen im Bundeszentralregister, alle einschlägig. Diebstahl, gefährliche Körperverletzungen, Jugendarrest, Haft. Scheidungskind, vom Vater misshandelt. Heute hat er keinen Kontakt mehr zu ihm. Der 26-Jährige selbst erzählt, dass er lieber ins Obdachlosenheim gegangen sei, als bei seiner Familie zu wohnen. Er wollte sie schützen, die Mutter und seine Brüder. Tatsächlich gibt er kein Stereotyp eines Junkies ab. Keine faulen Zähne, nicht verwahrlost. Im Gegenteil: gut gewachsen, gegelte Haare, Markenklamotten. Er würde gerne eine Ausbildung als Sport- und Fitnesskaufmann machen, doch im Gefängnis sei das leider nicht möglich.

    Thomas Obergrießer, psychiatrischer Gutachter, hat ihn in der Vergangenheit mehrmals beurteilt. Schon im Kindergartenalter sei er aufgefallen, der Angeklagte. Heute zeige er das Vollbild einer dissozialen Persönlichkeitsstörung in Form einer mittelgradigen psychotischen Störung. Wobei man von einer Drogenabhängigkeit zumindest phasenweise ausgehen müsse. Im Fall des Messerstichs sehe er einen Anlass für eine alkohol- und rauschbedingte Enthemmung, „aber nicht so heftig, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit erheblich tangiert gewesen sei“. Wie die Staatsanwältin so geht auch das Schöffengericht davon aus, dass es keine Notwehrsituation war im Dezember 2019.

    Das Gericht spricht ihn unter anderem wegen tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte, Verstoßes gegen Auflagen aus einer angeordneten Führungsaufsicht, Bedrohung und gefährlicher Körperverletzung schuldig. Vier Jahre muss er dafür im Gefängnis bleiben, außerdem in den Drogenentzug. „Sie wollten ihn nicht töten“, sagt Christian Veh in seiner Urteilsbegründung. „Das glauben wir. Aber das macht es nicht besser.“ Nun müsse er lange im Gefängnis bleiben – doch sei er jung, hätte noch Zeit, etwas aus sich zu machen, auch für seine Familie, der er viel Leid bereitet hat. Mit einem Bild formuliert: „Der Karren ist schon im Dreck. Den kann man aber noch herausziehen.“ Er soll sich aus dem Drogensumpf befreien und einen Beruf erlernen, etwas solides, vielleicht eher Bäcker als Fitnesskaufmann. „Schmeißen Sie Ihr Leben nicht weg. Es ist viel zu schön, als es den Drogen zu opfern.“

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