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Neuburg: NS-Forschung in Neuburg: Ein Amtsarzt, 165 Zwangssterilisationen

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NS-Forschung in Neuburg: Ein Amtsarzt, 165 Zwangssterilisationen

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    „Die regionale NS-Vergangenheit darf weder schöngeredet noch totgeschwiegen werden“, schreibt Wolfgang Proske als Herausgeber des elften Bandes „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. NS-Belastete aus Nordschwaben“.
    „Die regionale NS-Vergangenheit darf weder schöngeredet noch totgeschwiegen werden“, schreibt Wolfgang Proske als Herausgeber des elften Bandes „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. NS-Belastete aus Nordschwaben“. Foto: Arne Dedert, dpa (Symbolfoto)

    Hitler, Himmler, Göring, Goebbels – Namen, die unweigerlich an die Verbrechen des Nationalsozialismus geknüpft sind. Nazi-Größen, Toptäter und Führer, die entlarvt und aufgearbeitet wurden. Doch stehen sie nicht alleine für ein zwölfjähriges Regime, das vielen Menschen die Würde, Hoffnung und das Leben genommen hat. Sie wurden bekräftigt von leiseren Unterstützern, die auf lokaler Ebene, in Städten und Landkreisen, die NS-Vorgaben zumindest umgesetzt hatten. Wer sind diese Personen? Eine Frage, die die Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“ in bisher elf Bänden mit mehr als 200 Beiträgen aufzuklären versucht. Im neusten Band, dem elften, findet sich auch eine Biografie aus Neuburg wieder. Der Autor, ein Bekannter: Dr. Johannes Donhauser, Medizinaldirektor am Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen.

    Ernst Holländer leitete von 1931 bis 1946 das Gesundheitsamt Neuburg

    Johannes Donhauser hat sich mit Dr. Ernst Holländer beschäftigt, einem Amtsarzt, der von April 1931 bis zu seiner Amtsenthebung im Januar 1946 das Gesundheitsamt in Neuburg leitete. Geboren 1897 in Homburg, hatte Holländer die sogenannte „Erb- und Rassenpflege“ als Sonderform einer biologistisch aufgeladenen Bevölkerungspolitik mitgetragen. Ein Nazibegriff, erklärt Johannes Donhauser, der die Verbesserung arischen Erbguts auf der einen Seite meint, die Vermeidung artfremden Bluts auf der anderen. Für beide waren die in der NS-Zeit neu gegründeten Gesundheitsämter bürokratischer Motor.

    Ernst Holländer leitete während des NS-Regimes das Gesundheitsamt Neuburg.
    Ernst Holländer leitete während des NS-Regimes das Gesundheitsamt Neuburg. Foto: Staatsarchiv Augsburg

    So kam es, dass Holländer als Neuburger Amtsarzt während des Dritten Reichs insgesamt 165 Zwangssterilisationen verantwortet hatte – auch die von Anton S., dessen Geschichte Johannes Donhauser basierend auf mehreren Dokumenten und einer vorhergehenden Recherche erzählt. Der Mann, damals 42, litt an einem Klumpfuß. Eine amtsärztliche Untersuchung klassifizierte Anton S. deshalb als „Erbkranker“, er solle unfruchtbar gemacht werden, beschloss das Augsburger Erbgesundheitsgericht. Anton S. protestierte zwar mehrmals, flüchtete zwischenzeitlich sogar nach Österreich. Trotzdem wurde der siebenfache Vater im städtischen Krankenhaus in Augsburg im Jahr 1935 sterilisiert.

    Seit mehr als 20 Jahren schon arbeitet sich Johannes Donhauser durch die Sippenakten und andere Schriftstücke des Nationalsozialismus. Dazu motiviert hat ihn damals, in den 90ern, ein Beitrag der Fachzeitschrift „Das Gesundheitswesen“. Der Artikel rekapitulierte unter anderem die glorreiche Vergangenheit des bayerischen Gesundheitsdienstes, ließ das Dritte Reich in dieser Chronik aber weitgehend aus, wie der Mediziner erzählt. „Also habe ich einen Leserbrief geschrieben.“ Anstatt Kritik kam positive Resonanz vom Autoren zurück. „Man hat mich nicht gerüffelt, sondern bestärkt, selbst einen Beitrag zu formulieren.“ Daraus wurde ein Sonderheft.

    Donhauser sichtete knapp 2000 Sippenakten des Gesundheitsamts Neuburg

    Johannes Donhauser sichtete tausende Akten, darunter 1895 Sippenakten des früheren Gesundheitsamts in Neuburg. Selbstzeugnisse der Beschuldigten finde man nur selten, sagt er. Das betrifft auch die Biografie von Ernst Holländer – mit wenigen Ausnahmen: „Gewürdigt wurden überhaupt nur die belastenden Aussagen von Geisteskranken, Psychopathen, Schwachsinnigen, Erbkranken, verbrecherischen od. asozialen Elementen (...)“. Ein Zitat aus dem Entnazifizierungsverfahren 1946/47, das einen Rückschluss auf die Meinung des ehemaligen Arztes über seine Klientel zulässt, die ihn als Zeugen der „Erb- und Rassenpflege“ im Verfahren belastetet hatte.

    Mit Blick auf die Dokumentenlage geht Johannes Donhauser davon aus, dass Holländer überzeugt vom rassenhygienischen Gedankengut war, das als Phänomen übrigens kein rein nationalsozialistisches ist. Die Grundhaltung Holländers zeige sich unter anderem im Vergleich zu seinem Pfaffenhofener Kollegen Dr. Josef Fischer, der während des Regimes „erbpflegerisch“ viel zurückhaltender gewesen sei. Holländer, schreibt Johannes Donhauser in seinem Fazit, sei nicht als Täter im Sinn eines Naziverbrechers einzustufen, sondern als opportunistischer Trittbrettfahrer und Helfer. Er sei verantwortlich zu machen für hunderte verletzte Körper und Seelen und trage damit Schuld an vielen zerstörten Lebensentwürfen seiner Zeitgenossen in Neuburg und Umgebung.

    „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ ist eine Buchreihe, die seit 2010 von Wolfgang Proske herausgegeben wird. Der elfte Band um NS-Belastete in Nord-Schwaben ist wie alle anderen im Einzelhandel erhältlich.

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