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Neuburg: Die zweite Heimat

Neuburg

Die zweite Heimat

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    Es reichen drei Schritte aus, um zu erkennen, dass in diesem Haus in Rennertshofen Liebe und Sehnsucht ganz nah beieinanderliegen. Im Eingang hängt die Landkarte mit den Erinnerungsorten seiner Kindheit. Das Dorf Jaronín, die Kreisstadt Krummau, in dem die Moldau nach einer Kehrtwende weiter durch Südböhmen mäandert. Wenige Schritte weiter durch den Flur, links ins Wohnzimmer. Konturen der Städte zeichnen sich auf den Gemälden und Fotografien ab. Daneben ein robuster Hof im Sonnenschein. In der Küche breitet Franz Tanzer die Fotoalben aus. Er öffnet das älteste. Zwei Aufnahmen hat er auf der ersten Seite eingeklebt und beschriftet: „Die alte Heimat“ und „Die neue Heimat“. Wäre nach dem Krieg alles anders gekommen, dem 88-Jährigen würde eine Heimat genügen. Aber so schlagen in seiner Brust eben jene zwei Herzen, von denen eine ganze Generation Heimatvertriebener spricht.

    Vor 70 Jahren setzte die „humane Umsiedlung“ Deutscher aus Mittel- und Osteuropa ein – kurz nach den wilden Vertreibungen. Franz Tanzer war im Mai 1946 einer der Millionen Menschen, die ihr Heim als Folge zahlreicher Gründe aufgeben mussten. Die einen unterstützten das Nazi-Regime, andere sind die wahren Opfer der sowjetischen Bodenpolitik. Wenn Tanzer heute über diese Zeit spricht, nutzt er jedenfalls andere Worte, als die Politiker von damals: „Es war ein Verbrechen sondersgleichen.“

    Als Neuburg – größtenteils von Bombenangriffen verschont – das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte, zählte die Stadt rund 10000 Einwohner. Mit den Vertriebenen wuchs sie in ungeahnter Geschwindigkeit. Nur ein Jahr später lebten rund 14000 Menschen in Neuburg, das seinerzeit nicht auf den Ansturm vorbereitet war.

    Auch Franz Tanzer wusste nicht, wo ihn und seine Familie der Zug hinbringen wird. Doch sie hatten eh keine andere Wahl, als einzusteigen.

    Wenige Monate zuvor war er noch sein eigener Herr – oder besser gesagt: sein Vater war der Herr des Hauses. Simon Tanzer war der Bauer, er der Knecht auf dem Hof seiner Eltern. Die Mutter starb früh und so blieben er, Vater, Schwester und zwei Taufpaten zu fünft zurück. Im November 1945 traf dann die Nachkriegsregierung in den sogenannten Benes-Dekreten eine für die deutschen Siedler fatale Entscheidung, erinnert sich Tanzer. Die entschädigungslose Enteignung führte dazu, dass plötzlich eine andere Familie auf dem Hof der Tanzers stand. Keine Unbekannten, erinnert sich der Bub von damals. „Den neuen Besitzer kannte mein Vater wahrscheinlich sein ganzes Leben lang.“ Doch statt Tanzers vom Grundstück zu verjagen, blieben sie als zweite Familie auf dem Hof. So wurden aus den Bauern Knechte. Eine Seltenheit, dass sie nicht ohne Umwege vertrieben wurden, sagt der damals 17-Jährige. Es gab Gründe: „Ohne unser Wissen hätten sie den Hof nicht bewirtschaften können“, sagt er. Und Bauerndörfer könne man nicht einfach leer machen.

    Im Dezember 1945 traf der erste Zug in Neuburg ein. Alte, Kranke und Kinder kamen heraus, also jene, die in ihrer alten Heimat keine Felder bestellen oder Handwerksarbeiten verrichten konnten. Viele hatten kaum Geld und waren unterernährt, heißt es in Zeitzeugenberichten. Dann erhöhte sich der Takt. Ab März trafen fast wöchentlich Züge in Neuburg ein: Vertriebene aus Budapest, Sternberg, Gablonz und Südböhmen. In einem davon saß Franz Tanzers Familie.

    Anfang Mai endete die Ära der Familie auf dem Hof in Jaronín. Noch bis Freitag haben sie die Arbeiten verrichtet, wie jeden Tag. Am Samstag mussten sie packen. Dann kamen sie mit den wenigen Habseligkeiten, die man in der Eile zusammenraufen konnte, auf dem Pferdefuhrwerk am Dorfplatz an. Vater Simon haben sie das Werkzeug abgenommen. Die Taschen wurden gewogen. Zur nächsten Station brachte die Familie ein Lastwagen: das Sammellager in der Kreisstadt Krummau. Franz Tanzer erinnert sich noch an die Wanzen, die in den nächsten Wochen an ihren Körpern und Nerven zehrten: „Manch einen haben sie aufgefressen“, sagten sie sich damals. Vater, Sohn, Tochter und die Taufpaten saßen vor einer ungewissen Zukunft, umgeben von Insekten und Menschen, denen es genau so ging. Dann kam der Zug. Am 20. Mai stiegen die Tanzers an ihrer ersten Zwischenstation in Furth im Wald aus den Waggons. 1200 Menschen, aufgeteilt auf einen Zug von 30 Wagen, der für jedes andere überholende Schienenfahrzeug auf dem Abstellgleis geparkt wurde. Der Zug fuhr erneut an und erreichte Augsburg.

    Die „Verteilungstransporte von Haunstetten“, nennt Franz Tanzer diese Station seiner Vertreibung. Die Ausgewiesenen wurden neu eingeteilt. Familien durften zusammenbleiben. Doch die Behörden wollten vermeiden, dass nur Menschen aus einem Kreis an der nächsten Station ankommen. Ein Drittel des Zuges fuhr also in den Süden nach Sonthofen, der andere Teil nach Günzburg und das übrige Drittel, in den Familie Tanzer eingeteilt wurde, ratterte los Richtung Norden – nach Neuburg.

    Zwischen dem 1. Juli 1945 und dem 1. Januar 1947 zählt die Statistik 16403 Flüchtlinge und Ausgewiesene, die im damals noch schwäbischen Kreis Neuburg eintrafen. Bis in die 1950er Jahre erreichten Menschen aus den östlichen Gebieten die neue Heimat. Rund drei Viertel waren Sudetendeutsche, ein knappes Viertel Schlesier. Obwohl die Stadt von schweren Kriegsschäden verschont geblieben ist, herrschte zu jener Zeit eklatanter Wohnungsmangel. Größere Gebäude wie die Infanteriekaserne bewohnten US-Truppen. In den Aufzeichnungen ist die Rede von Elendsquartieren und menschenunwürdigen Behausungen. Als Durchgangslager dienten mehrere Räume des Schlosses, später die Mädchenoberschule, dann folgten weitere Schulen, Schlösser in Sinning und Bertoldsheim, das ehemalige Kneippheim in Neuburg. Allein das Flüchtlingslager im Seminar umfasste 500 Betten und 500 Strohsäcke für den Notfall.

    Wanzen. Immer diese Wanzen. Franz Tanzer erinnert sich: „Meine Schwester war ganz verbissen“, berichtet er aus seiner Zeit in den Hochbetten im Seminar. In dieser einen Woche Auffanglager ging auch das Schamgefühl verloren. In mancher Haferflockensuppe schwamm Mäusekot und die Buben waren damals immer unterwegs, um so wenig Zeit wie möglich im Lager zu verbringen. Mit etwas Glück gab es Kartoffelleberwurst vom Metzger in der Oberen Stadt oder Eintopf bei der Gaststätte Grüner Baum, für 50 Pfennig. „Das Flüchtlingslager war ein Kraftakt“, sagt er, „für die Stadt und die Vertriebenen.“

    Dann hielt wieder ein Lastwagen, als würde sich seine Reise spiegeln. Er brachte die Familie nach Buch bei Ehekirchen und zehn Familien stiegen aus, die auf die Bauernhöfe verteilt werden sollte. Zuletzt stand nur noch eine Familie im Hof von Bürgermeister Sepp Fischer. Keine Frau, zwei Alte und eine Schulpflichtige? Schwierig. Bis der wohlhabende Hollander Bauer vorbeikam: „Also, nehm’s mit“, sagte der Fischer Sepp. Und sie gingen in ihr neues Leben.

    Literatur Im Kapitel „Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen“ liefert der Geschichtsband „Umbrüche. Leben in Neuburg und Umgebung 1918 – 1948“ eine umfassende Abhandlung.

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