Thomas Rißel hält einen kleinen Schlüssel in die Höhe. "Sehen Sie mal, was wir dabeihaben. Wir sind schließlich eine kriminelle Vereinigung", spottet er. Der Ingenieur ist Teil der Letzten Generation, deren Gruppe in Ulm und Neu-Ulm auf inzwischen 30 bis 40 Aktive angewachsen ist. So beschreibt es Sprecherin Sarah Lobenhofer. Bei den Betonspatzen hinter dem Münster haben sich rund 50 Menschen getroffen, um bei einem Protestmarsch durch die Stadt zu ziehen.
Thomas Rißel hat sich schon an Protestaktionen beteiligt. Die Klimakrise und ihre Auswirkungen treiben ihn um. "Diesen ganzen Quatsch", also die Protestaktionen, brauche die Letzte Generation nur, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Das Problem, das der Weltklimarat in seinem jüngsten Bericht benennt: Die Erde wird immer heißer, die Folgen für die Menschheit werden drastisch sein.
Letzte Generation protestiert in Ulm gegen Razzia
Als drastisch empfinden viele Menschen den Protest. Die "Klimakleber" haben Straßen blockiert, auch in Ulm: erst die Theaterkreuzung, später die Neue Mitte. An diesem Freitag wollen sie protestieren. Gegen die Razzia mit Durchsuchungen bei 15 Mitgliedern der Vereinigung in sieben Bundesländern. Eine Aktion, die die Solidarität anderer geweckt hat. Es beteiligen sich mehr Menschen als an bisherigen Aktionen in Ulm und Neu-Ulm. Wolfgang Moll ist einer von ihnen. "Völlig überzogen" seien die Ermittlungen, findet er. Moll leitet das soziokulturelle Zentrum Medienschmiede Ulm, er ist Mitglied der Grünen. Seine Medienschmiede will gesellschaftlichen Bewegungen Raum geben. Die Letzte Generation stellte sich Anfang Mai bei einem Vortragsabend vor.
Heute geht es um den Protest. Niemand werde sich festkleben, verspricht Sarah Lobenhofer der Polizei. Dabei wird es bleiben. Sie selbst ist deswegen schon von einem Gericht verwarnt worden. Wegen Nötigung, eine Straßenblockade in München. "Ich weiß, dass das Folgen für meine Zukunft haben kann. Aber die Folgen der Klimakrise sind schlimmer", sagt sie. Heute ist die Letzte Generation leise. "Wir haben diese Form bewusst gewählt, weil wir sonst anders auftreten", erklärt Sarah Lobenhofer.
Protestmarsch durch die Fußgängerzone und die Olgastraße
Letzte Generation, Polizei und Stadt handeln eine Laufroute aus. Durch die Fußgängerzone, weiter über die Olgastraße und zurück ans Münster. Leise hin oder her, die Menschen in den Autos sollen den Protest spüren. Polizeibusse begleiten den Zug, an der Theaterkreuzung regeln Beamte den Verkehr. Die Demonstrierenden ziehen gemächlich die Olgastraße entlang Richtung Volksbank, eine Autoschlange wartet dahinter. Wer kann, biegt ab oder wendet. Am Straßenrand verteilen Aktivistinnen und Aktivisten Flugblätter, die auf den nächsten Vortrag hinweisen: Treffpunkt am 6. Juni um 19 Uhr vor dem Eingang der Stadtbibliothek. Gegen 18 Uhr endet der Protestmarsch vor dem Rathaus.
Nur wenige Stunden nach der großen Razzia am Mittwoch hatten die Ulmer und die Heidenheimer Gruppe von Fridays for Future zu einer Kundgebung gegen das Handelsabkommen zwischen der EU und der südamerikanischen Wirtschaftsorganisation Mercosur auf den Münsterplatz eingeladen. Auch zwei Traktoren waren dabei, das von jungen Menschen getragene Klimaschutz-Bündnis arbeitet nun mit zwei bäuerlichen Organisationen zusammen. Alle drei fürchten, dass durch das Abkommen mit in Europa verbotenen Pestiziden belastete Erzeugnisse importiert werden. Zur gemeinsamen Kundgebung in Ulm kommen allerdings nur etwa zwei Dutzend Menschen, die Razzia gegen die Letzte Generation ist kein Thema auf dem Platz. In der Szene schon.
Aktivist Ingo Blechschmidt engagierte sich auch in Ulm
"Ich bin total getroffen", sagt Charlie Kiehne. Die Ulmerin bezeichnet sich als freie Klimaaktivistin. Sie hat Demonstrationen von Fridays for Future organisiert und erfolglos versucht, die Rodung von Bäumen im Ulmer Uniwald zu verhindern. Wo früher Eichen standen, errichtet das Uniklinikum ein Bettenhaus. Für die Aktion "Eichi bleibt", die im Januar mit der Räumung durch die Polizei endete, engagierte sich auch Ingo Blechschmidt. Den Wissenschaftler aus Augsburg sehen die Behörden offenbar als einen führenden Kopf der Letzten Generation, bei der Razzia wurden das Haus seiner Mutter und die Wohnung seiner Freundin durchsucht.
Blechschmidt sagt, er wolle sich durch die Razzia nicht aufhalten lassen: "Ich denke, in zehn Jahren werden wir uns alle fragen, was wir damals gegen die Klimakrise getan haben. Dann will ich meiner Tochter nicht sagen, dass ich erst ein bisschen protestiert habe und nach einer Polizeidurchsuchung nur noch auf der Couch gesessen bin." Ein bisschen protestiert hat der Mathematiker auch in Ulm. Der Stadt fühle er sich verbunden, er habe Verwandtschaft dort. Als Charlie Kiehne Unterstützung suchte, um die Rodung für das Bettenhaus aufzuhalten, engagierte er sich.
Es setze ihr zu, dass ein ihr nahestehender Mensch staatlichen Repressionen ausgesetzt sei, sagt Kiehne. Sie selbst fühle sich durch die Ermittlungen bestärkt, weiter für Maßnahmen gegen die Klimakrise zu protestieren. "Wir wollen weiter nerven und ärgern, weil es so nicht weitergeht", betont die Aktivistin. In der Vergangenheit hat sie sich auch kritisch über die Letzte Generation geäußert, an dieser Sicht hat sich nichts geändert. Kiehne ist überzeugt, dass bei allen Aktionen klar erkennbar sein muss, worauf sie abzielen und was sie bewirken. Das erkenne sie bei der Letzten Generation nicht immer. Aber: "Die Letzte Generation macht unfassbar wichtige Öffentlichkeitsarbeit." Und dann ist da noch etwas. Kiehne hat Demonstrationen angemeldet, Infostände betrieben, Petitionen ins Leben gerufen. "Netter Protest", sagt sie selbst. Der habe nicht das bewirkt, was sie erreichen wollte. Daher sehe sie kein Problem darin, dass die Letzte Generation aneckt. Dass sie auch Menschen verärgert, denen die Erderhitzung Sorge bereitet. "Es muss gestört werden. Der Alltag muss zerrissen werden, damit die Leute hinschauen", ist sie überzeugt.