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Ulm: Theater bei "BoConcept" in Ulm: Stille Nacht zwischen Möbeln

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Theater bei "BoConcept" in Ulm: Stille Nacht zwischen Möbeln

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    Nach Zuwendung, auch nach körperlicher Nähe, sehnen sich Josef (Karl Heinz Glaser) und Maria (Christel Mayr) in Peter Turrinis Stück. Doch die Einsamkeit hat Spuren auf den Seelen der beiden Menschen hinterlassen.
    Nach Zuwendung, auch nach körperlicher Nähe, sehnen sich Josef (Karl Heinz Glaser) und Maria (Christel Mayr) in Peter Turrinis Stück. Doch die Einsamkeit hat Spuren auf den Seelen der beiden Menschen hinterlassen. Foto: Kerstin Schomburg

    Maria bewältigt Heiligabend nur mit Gin, und Josef hat sich für die ganze Weihnachtsnacht zum Wachdienst im Kaufhaus eintragen lassen: Ein sentimentales Weihnachtsmärchen ist Peter Turrinis 1980 uraufgeführtes Theaterstück „Josef und Maria“ gewiss nicht. Und doch rühren die Geschehnisse einer Weihnachtsnacht, von der Turrini erzählt, die Zuschauer tief. Denn wohl in keiner Nacht tut Einsamkeit so weh wie am Fest der Liebe. Das Theater Ulm geht mit dieser Inszenierung Charlotte van Kerckhovens aus dem Theater heraus in das Ulmer „BoConcept“-Einrichtungshaus an der Neuen Mitte und beweist damit die glückliche Hand, die man aktuell am Haus für ungewöhnliche Aufführungen hat. Das Zusammentreffen der beiden Senioren Josef und Maria, die ihre geringe Rente durch die nächtliche Arbeit aufbessern, wirkt zwischen den schicken Möbeln besonders intensiv.

    Die Lampe, die Maria putzt, kostet so viel wie eine Monatsrente

    Maria wurde von ihrem einzigen Sohn Willi und dessen Frau für den Heiligabend ausgeladen. Es gibt Karpfen, das weiß sie, und sie hat Geschenke gekauft von ihrer schmalen Rente. Ein Anruf bei Willi – vielleicht bittet er die Mutter doch noch, nach der Arbeit zu kommen? Aber Willi legt auf. Maria wird an Heiligabend allein bleiben. Sie putzt im Möbelhaus, und die Lampe, die sie abwischt, würde Marias monatliche Rente praktisch komplett kosten. Gesellschaft leistet ihr eine Flasche Gin.

    Marias Telefonat bringt den Wachmann Josef auf den Plan, der Marias Stimme hört. Einsam ist auch er, doch seine Biografie ist eine völlig andere. Er hat niemanden und sieht sich als Freigeist. Christel Mayr gibt der schlurfend gehenden Putzfrau großen Lebenshunger und die faszinierende Fähigkeit, von gebücktem Gang sekundenschnell und doch glaubhaft für Momente in Marias bewegtes früheres Leben als Varietétänzerin zurückzukehren. Mayrs Tango ist ein melodramatisch-verführerischer Genuss – doch muss Maria die bittere Pille schlucken, dass Josef – gespielt von Karl Heinz Glaser – ihren Verführungskünsten nicht erliegt. Marias Hunger nach Berührung und Sexualität scheitert an Josefs Ängsten: Seine letzte sexuelle Begegnung ist Jahrzehnte her.

    Regisseurin Charlotte van Kerckhoven geht sensibel mit den Figuren um

    Sensibel und urteilsfrei, dafür mit viel Begreifen geht Charlotte van Kerckhoven mit den Biografien der beiden Senioren um: Die unpolitische Maria hat in ihrem Leben gelernt, sich durchzuschlagen, auch ohne den Mann, von dem sie schwanger wurde und mit dem sie danach nichts mehr zu tun hatte. Die Leidenschaft für den Tanz und ihr Stolz haben sie so wenig verlassen wie ihre Lust. Josefs Psyche und Gesundheit dagegen zerbrachen, als ihn die DDR-Staatssicherheit verhaftete und er Jahre in Haft und in der Psychiatrie zubringen musste. Und dies, obwohl Josef sich als hehrer politischer Kämpfer für den Sozialismus fühlt – aber für einen gerechten und menschlichen Sozialismus, den er für möglich hält. Josef hat einen Schutzmantel um sich gebaut. Nach menschlicher Zuwendung sehnt auch er sich – aber möglichst berührungsfrei. Und beide, Josef und Maria, hungern nach Anerkennung, so unterschiedlich die auch aussehen kann.

    Gaëtan Chailly gelingt es, für die Inszenierung im Verkaufsraum eines Einrichtungshauses eine Choreografie zu formen, die überzeugend Ängste thematisiert: Maria war schön. Doch jetzt, als Rentnerin ihren Körper zu zeigen? Josef weiß nicht, wie viel Sexualität sein Körper noch kann, ungeübt seit langer Zeit. Mit jemandem „in die Kiste steigen“ – ein Ausdruck, der für Jüngere Alltagssprache ist, wird für Josef und Maria zum Moment einer scharfen Auseinandersetzung. In die Kiste – das kann auch nach Tod, nach Sarg klingen. Nein, in die riesige Verpackungskiste steigt Maria nicht, so sehr sie sich nach Intimität sehnt.

    Klug baut die Inszenierung Gegenstände aus dem Einrichtungshaus ein, die Josef und Maria zuerst mit Scheu, dann immer freier nutzen. Der Gin lockert die Zunge, der Tango tut sein Übriges. Vielleicht ist es das glücklichste Weihnachten seit ihrer Kindheit, das Josef und Maria erleben. Ohne Happy End würde „Josef und Maria“ auch nicht funktionieren, und insofern schuf Turrini doch ein Stück einer Weihnachtsgeschichte – doch mit viel Tiefgang, der die zunehmende Altersarmut thematisiert, der Fragen auch an die Kindergeneration stellt, und in dem Charlotte van Kerckhoven vom Jungen Theater sich nach „Judas“ und „Jihad Baby“ einmal mehr als einfühlsame Regisseurin erweist.

    Restkarten gibt es nur noch für die Aufführung am Donnerstag, 28. November. Diese sind erhältlich an der Theaterkasse und auf theater-ulm.de

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