Das Motto "Wir sind viele!" war nicht nur eine Behauptung, sie stimmte tatsächlich: Mindestens 6000 Menschen kamen am Samstagnachmittag auf dem Münsterplatz zusammen, um gegen Hetze Stellung zu beziehen und um zu zeigen, dass den sogenannten "Spaziergängern" die Straße nicht allein gehört. Das war das erklärte Ziel der Veranstaltung. Nach der kurzen Kundgebung in Ulm liefen die Menschen in Richtung Neu-Ulm, um die beiden Zentren der Doppelstadt mit einer Menschenkette zu verbinden. Das hat geklappt, es waren deutlich mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer als nötig.
6000 Spaziergänger am Freitagabend in Ulm und Neu-Ulm
Am Freitagabend waren 6000 Impfgegner und Kritiker der Corona-Politik bei ihrem "Spaziergang" durch die Ulmer Innenstadt gezogen. Es sollen mehr gewesen sein als bei den vorangegangenen nicht angemeldeten Demonstrationen. Sie riefen "Freiheit!", führten auch kleine Kinder mit, hielten Sicherheitsabstände nicht ein, trugen fast durchgehend keine Gesichtsmasken und behinderten massiv den Straßenverkehr. Am Samstagnachmittag zeigte sich ein völlig anderes Bild.
Nach Schätzung des Ulmer Oberbürgermeisters Gunter Czisch versammelten sich auf dem Ulmer Münsterplatz unter dem Motto "Wir sind viele!" mehr Menschen als am Vorabend beim "Spaziergang". Bei dieser die Corona-Politik unterstützenden, angemeldeten Demo benutzten die Teilnehmer vorschriftsgemäß nur die Bürgersteige und trugen allesamt Masken. Um den Abstand zum Nächsten zu wahren, waren die Mitglieder der Kette mit langen Schals oder Seilen verbunden.
Impfgegner sind "nicht die Mehrheit"
Auf dem Münsterplatz war kaum noch ein freies Plätzchen zu haben, als Maria Rosendorfsky die Menge mit dem Beatles-Song "Let It Be" auf die Kundgebung einstimmte, die insbesondere vom Kulturmanager Peter Langer und Münster-Dekan Ernst-Wilhelm Gohl initiiert worden war. Ein paar Störer im Hintergrund machte Langer schnell und ohne großes Aufsehen mundtot und erklärte wie die anderen Redner nachher auch: "Wir sagen Ja zur Solidarität und Nein zur Hetze."
Gohl dankte zunächst den zwei Medizinstudenten, die vor einer guten Woche den Anstoß zur Bewegung gegen die Impfgegner gegeben hatten. Zu diesen sagte er klipp und klar: "Die sind nicht die Mehrheit." Nicht die Herrschenden hätten einst das Münster erbaut, sondern die Bürgerschaft, und auch heute stehe man für die Gemeinschaft. "Wir lassen uns nicht durch Hetzparolen, wie wir sie gestern auf dem Münsterplatz gehört haben, kaputt machen", sagte der Dekan. "Unser Leben ist immer verletzlich, das sehen wir jetzt während der Pandemie. Wir brauchen keine Verschwörungsgeschichten und keine Hetze." Ganz viel Beifall bekam er, als er auf die Zustände zum Beispiel in Kasachstan und Belarus verwies: "Dort werden Menschen, die demonstrieren, erschossen." Und Gohl war sich sicher: "Ohne die Solidarität von 73 Prozent der Bevölkerung sähe es bei uns ganz anders aus." Etwa so viele Menschen sind in Deutschland bis jetzt mindestens einmal gegen Corona geimpft.
Versammlung auf dem Münsterplatz steht "für Anstand"
Besonders drastische Worte richtete Ulms früherer Oberbürgermeister Ivo Gönner an die Versammelten. Zunächst freute sich Gönner, dass "die Ulmer wieder auf dem Münsterplatz sind", und meinte nur die, die am Samstagnachmittag dort erschienen. Dann schalt er die, "die keinen Abstand halten, keinen Mundschutz tragen und andere in Gefahr bringen". Er erklärte: "Wir treten ein für unsere Verfassung, für Freiheit, die Demonstrationsfreiheit und freie Wahlen. Wir treten aber nicht dafür ein, dass daraus Hetze und Androhung von Gewalt entsteht." Gönner findet, was die Andersdenkenden treiben, "hat nichts mit Spaziergang zu tun". Wer sich respekt- und verantwortungslos verhalte, sei "ein rücksichtsloser Mensch". Der Ex-OB endete mit den Worten: "Gut, dass Sie den Münsterplatz für die Versammlung gewählt haben, die für Anstand steht. Vielen Dank, dass Sie sich für Solidarität und gegen Hetze aussprechen."
Maria Winkler, Geschäftsführerin der Gewerkschaft Verdi mahnte, der Zusammenhalt und die Solidarität seien nach 22 Monaten Pandemie "ziemlich aufgebraucht". Ferner sagte sie: "Hetze und Verleumdung müssen aufhören. Wir tun alle gut daran, verbal abzurüsten. Der Weg aus der Pandemie ist kein Spaziergang." Die Kluft zwischen Arm und Reich sei in der Pandemie auch in Deutschland größer geworden, "aber unsere Demokratie ist stark".
Einstein: Es gibt keine Impfung gegen Dummheit
Als besondere Rednerin begrüßte Peter Langer die Cousine zweiten Grades des in Ulm geborenen Albert Einstein, Karen Carlsen aus Chicago. Sie weilt derzeit in Ulm, um ihre Familiengeschichte zu erforschen. Sie sprach sich ganz klar für Solidarität und gegen Hass aus. "Wir sind viele", rief sie der Menge zu, "und ich freue mich, dabei zu sein." Sie wartete mit zwei Zitaten von Einstein auf: "Wahrheit ist das, was den Test der Erfahrung besteht" und mit klarem Hinweis auf die Teilnehmer an den Gegendemonstrationen: "Es gibt keine Impfung gegen Dummheit."
Die Menschenkette nach Neu-Ulm funktionierte prächtig, zum Teil gab es zwei Ketten nebeneinander, so intensiv war die Beteiligung. Vor der Kirche St. Johann Baptist wurden die Demonstrationsteilnehmer, die während der gesamten Veranstaltung ihre Masken trugen, unter anderem von der Neu-Ulmer Oberbürgermeisterin Karin Albsteiger empfangen, die sich sofort an der Seite ihres Ulmer Amtskollegen Gunter Czisch in die Menschenkette einreihte. Nach gut einer Stunde löste Dekan Ernst-Wilhelm Gohl die absolut friedliche Versammlung auf.