Es geht gen Osten – die Entfernung beträgt knapp 2000 Kilometer. Läuft alles nach Plan, dauert es genau 29 Stunden und zehn Minuten. Elf Zwischenhalte sind vorgesehen, darunter Nürnberg, Zwickau, Lemberg. Startpunkt ist: Ulm – das Ziel: Kiew. Anbieter ist das Busverkehrsunternehmen FlixBus. Die Kosten liegen bei rund 80 Euro pro Person. Laut der Internetseite von FlixBus sind noch zahlreiche Plätze für kommenden Samstag frei – entscheidend ist: Der Bus soll fahren.
Im Normalfall wäre das keine Nachricht wert, schließlich steuert das Verkehrsunternehmen zahlreiche Destinationen in Europa an. Zur Zeit aber erscheint eine Reise in die Ukraine aufgrund einer möglicherweise kurz bevorstehenden russischen Invasion surreal. Zuletzt hatte das Auswärtige Amt Deutsche im Land aufgefordert, die Ukraine zu verlassen, sollte deren Anwesenheit nicht zwingend erforderlich sein.
FlixBus und Wizz Air schweigen sich aus zum Konflikt in der Ukraine
Wird es die Direktverbindung Ulm–Kiew auch noch bei einem russischen Einmarsch in die Ukraine geben? Auf Nachfrage unserer Redaktion kommt nur eine spärliche Antwort des Unternehmens: "FlixBus beobachtet die Situation in der Ukraine mit äußerster Sorgfalt. Aktuell finden unsere Fahrten gemäß Fahrplan statt." Zu weiteren Fragen schweigt sich das Unternehmen aus.
Der Flughafen Memmingen zeigt sich etwas auskunftsfreudiger. Von hier aus werden Lemberg in der Westukraine und Kiew angeflogen. Pressesprecherin Marina Siladji verweist darauf, dass nach bisherigem Stand alle Flüge wie geplant stattfinden sollen. Was im Fall der Fälle geschähe, ob die Flugverbindungen bei einem Einmarsch der russischen Armee ausgesetzt würden, könne aber nur die verantwortliche Fluggesellschaft beantworten. Wizz Air äußert sich auf mehrere Anfragen unserer Redaktion nicht.
Aus touristischen Gründen wird in Anbetracht der derzeitigen Lage wohl sowieso kaum jemand in die Ukraine reisen. In Ulm und im Landkreis Neu-Ulm gibt es aber mannigfache Verbindungen in die Ukraine – häufig familiärer Natur. Wie beurteilen diese Menschen die Lage in der Ukraine?
Georg Babiaks Vorfahren stammen aus der Ukraine
Georg Babiak spricht mit großer Innigkeit von seinen Vorfahren. "Unsere ukrainischen Wurzeln reichen zurück bis in die Habsburger-Monarchie", sagt der Neu-Ulmer Hausarzt. Er selbst sei zwar nicht mehr dort geboren, aber: "Meine Mutter stammt aus Kiew, mein Vater aus Tarnopol." Auch seine Frau ist Ukrainerin, sie habe noch sehr enge verwandtschaftliche Beziehungen in das Land.
Babiak selbst fahre immer wieder in das Land seiner Vorfahren, zuletzt vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Wenn er von seinen Aufenthalten erzählt, gerät er ins Schwärmen. Er spricht von der wunderschönen Landschaft, von Lemberg, das so zauberhaft aussehe wie Wien. Wenn er dort ist, besucht er auch seine entfernten Verwandten. Auf die Frage, was sie ihm wegen der aktuellen Bedrohungslage berichten, sagt Babiak lediglich: "Gar nichts." Sie seien sehr besorgt und möchten nicht darüber sprechen. Da sie in der Westukraine lebten, seien sie aber einigermaßen sicher.
Von der deutschen, überhaupt der westlichen Politik im Umgang mit Putin ist Babiak maßlos enttäuscht. "Die Ukrainer sind Europäer", sagt er wütend. Diese nicht mehr zu unterstützen bei Putins aggressivem Kurs, sei schwach. Der russische Präsident lache doch über Biden, Macron und Scholz. Was es aus Babiaks Sicht benötigte, sei eine viel entschiedenere Reaktion als das, was im Moment geschehe. Den Optimismus möchte er sich trotzdem bewahren. "Für die Menschen in der Ukraine hoffe ich, dass nichts passieren wird."
In Neu-Ulm ist eine ukrainische katholische Gemeinde zuhause
Ebenfalls in Neu-Ulm, in der Reuttier Straße, befindet sich die Pfarrei Maria Himmelfahrt. Sie ist eine wichtige Anlaufstelle für Ukrainer katholischen Glaubens. Als Teil der Diözese Augsburg zählt sie im Ganzen rund 270 Mitglieder; viele unter ihnen sind Spätaussiedler, also Ukrainischstämmige, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nach Deutschland kamen. Ihr Pfarrer, Andriy Pizo, lebt seit fast zwanzig Jahren in Deutschland. Was hört Pizo aus seiner Gemeinde zur Situation in der Ukraine? "Es tut weh", sagt er. Er wisse, dass das Thema vielen Menschen am Herzen liege. "Gerade denjenigen, die noch Familie vor Ort haben." Der Krieg mit Russland dauere ja schon länger an.
Die derzeitige Situation an der russisch-ukrainischen Grenze könne er nur schwer einschätzen. Man müsste mit eigenen Augen sehen, was sich vor Ort abspiele. Sonst könne man das nicht beurteilen. Zumindest das, was er in den Nachrichten höre, sei bedrohlich. Pizo hat Verwandte in der Ukraine. Seine Mutter lebe noch dort, im Westen des Landes. "Das beruhigt mich etwas", sagt er. Die Sorge um die Ukraine aber bleibe.
Der Studierendenaustausch zwischen Ulm und Kiew soll weiterlaufen
Sorgen macht sich Evgeny Spodarev nicht. Er ist Professor für angewandte Statistik an der Universität Ulm und verantwortlich für den Studierendenaustausch mit der Universität Kiew. Ulmer Studierende seien derzeit keine in Kiew. Das habe aber nichts mit den politischen Gegebenheiten vor Ort zu tun. "Dahinter steckt eher fehlendes Interesse auf deutscher Seite", sagt er. Deshalb seien schon seit einem Jahr keine Studierenden mehr in Kiew gewesen. Aus der Ukraine gebe es hingegen regelmäßig Bewerber für den Austausch. Spodarev ist überzeugt, dass die aktuelle politische Lage in der Ukraine den Studierendenaustausch nicht zum Erliegen bringen wird. Politik und Wissenschaft seien schließlich zwei unterschiedliche Bereiche.
Überhaupt, die Situation in der ukrainisch-russischen Grenzregion macht dem aus Nowosibirsk stammenden Spodarev wenig Sorgen: Er sagt, das Thema werde von Teilen der Medien "gepusht". Er halte sich lieber an Fakten, deshalb sehe er die derzeitige Situation gelassener. Ende März werde er für eine Koordinationsreise selbst in die Ukraine fahren. Dass seine Reise durch einen Krieg nicht möglich seien könnte, hält er für unwahrscheinlich.